Befürchtet wird, dass die bittere Wahrheit die Motivation der eigenen Bevölkerung untergräbt. Während die ukrainische Seite Russlands Verluste laut "Kiew Post" aktuell auf fast 273.000 beziffert, gingt die "New York Times" zuletzt von bis 70.000 gefallenen und bis zu 120.000 verwundeten ukrainischen Soldaten aus.
Gerade unter dem Eindruck der sehr verlustreichen Offensive erhöht Kiew auf der Suche nach Wehrpflichtigen den Druck. Der EU-Statistikbehörde Eurostat zufolge sind in den 27 EU-Staaten und in Norwegen, Schweiz und Liechtenstein mehr als 650.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 64 Jahren als Flüchtlinge registriert. In der Ukraine diskutieren Öffentlichkeit und Politik nun eifrig, wie diese zurückgeholt werden können.
650.000 Menschen sind eine enorm hohe Zahl, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die ukrainische Armee laut dem neuen Verteidigungsminister Rustem Umjerow aus 800.000 Soldatinnen und Soldaten besteht. Zusammen mit anderen militärischen Organisationen sollen in dem angegriffenen Land rund eine Million Menschen bewaffneten Einheiten angehören.
Als erste Maßnahme hatte Kiew den Grenzschutz verstärkt. "Insgesamt haben die Grenzer seit dem 24. Februar vorigen Jahres etwa 14.600 Personen festgenommen, die illegal die Ukraine verlassen wollten", sagte Grenzschutzsprecher Andrij Demtschenko am 5. September im ukrainischen Fernsehen. Zusätzlich seien rund 6200 Männer mit gefälschten Ausreisegenehmigungen erwischt worden. Flüchtige seien vor allem an der "grünen Grenze" zu Rumänien und der Republik Moldau aufgegriffen worden, sagte Demtschenko. Es gehe hauptsächlich um Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren.
Jetzt erwartet die ukrainische Regierung von den EU-Staaten Hilfe, untergetauchte Kriegsdienstverweigerer zurück in die Ukraine zu bringen. Einen neuen Anstoß für die Diskussion gab jüngst der Fraktionschef der regierenden Präsidentenpartei Diener des Volkes im ukrainischen Parlament, David Arachamia. In erster Linie geht es dabei um Kriegsdienstverweigerer, die mithilfe von gekauften ärztlichen Bescheinigungen als wehrunfähig eingestuft wurden und deshalb ausreisen konnten. Der Verkauf von Dokumenten für eine Freistellung vom Wehrdienst floriert in der Ukraine. Nach einer von Präsident Wolodymyr Selenskyj angeordneten Welle von Razzien mit Festnahmen in den Einberufungsstellen liegt der Preis für derartige Papiere nach Justizangaben inzwischen bei über 10.000 Euro.
Nach Angaben des Bundesamts für Migration sind seit dem 24. Februar 2022 insgesamt 214.263 männliche ukrainische Staatsangehörige nach Deutschland eingereist, die zum 31. Juli dieses Jahres zwischen 18 und 60 Jahre alt waren. Davon halten sich noch 184.272 in Deutschland auf, berichtete die Deutsche Welle (DW). Hinzu kommen laut Schätzungen bis zu 100.000 Ukrainer unter 60, die sich in Deutschland illegal, das heißt nicht erfasst, aufhalten.
Bisher hat Kiew die deutschen Behörden noch nicht gebeten, Männer im wehrpflichtigen Alter abzuschieben, die die Ukraine illegal verlassen haben oder nach ihrer legalen Ausreise nicht in die Ukraine zurückgekehrt sind, berichtet die Deutsche Welle unter Berufung auf Maximilian Kall, Sprecher des Bundesinnenministeriums. Der ukrainische Justizminister Denys Maljuska räumte auch ein, dass das problematisch sei – selbst wenn sich im Ausland lebende Wehrpflichtige in der Ukraine strafbar gemacht hätten, in dem sie zum Beispiel Behörden geschmiert haben.
In der ukrainischen Verfassung ist das Recht auf Wehrdienstverweigerung nicht verankert – es gilt das Kriegsrecht. "So ist der Militärdienst durch Mobilmachung laut Gesetz für alle wehrberechtigten Personen zwischen 18 und 60 Jahren obligatorisch. In bestimmten Fällen kann Einzelpersonen ein Aufschub dieser Dienstleistung gewährt werden, zum Beispiel wenn es sich bei einer Person um einen Universitätsstudenten handelt", bestätigte die Charkiw Human Rights Group.
"Direkt nach Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine hat die EU die sogenannte Massenzustromrichtlinie in Kraft gesetzt und wir konnten in Deutschland alle Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine nach Paragraph 24 Aufnahmegesetz hier bei uns aufnehmen. Es gab kein Asylverfahren und dementsprechend auch keine Möglichkeit, einen möglichen Asyltitel zu entziehen und diese Leute zurückzuschicken. Unabhängig davon, ob es sich um Männer im wehrpflichtigen Alter handelt, Frauen, Kinder, alte Leute – diese Menschen haben einen Aufenthaltstitel", erklärt Jochen Hövekenmeier vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Sollte der humanitäre Aufenthaltstitel irgendwann auslaufen, müssten ukrainische Geflüchtete, wie alle anderen, einen Antrag auf Asyl stellen.
Falls sich die Ukraine ans Ausland wendet, um Fahnenflüchtige mit gefälschten Dokumenten ausliefern zu lassen, dann besteht die theoretische Möglichkeit einer Auslieferung nur im Rahmen eines Strafverfahrens, bei dem eine Straftat nachgewiesen werden müsse, erklärt die Charkiw Human Rights Group. Praktisch gebe es aber keine Aussicht auf Ermittlungen und Feststellungen der Schuld. Soweit die juristischen Grundlagen. Für Protest im Westen, auch in Deutschland, sorgte der am 15. August 2023 vom Solomyanskyi Bezirksgericht in Kiew verhängte teilweise Hausarrest gegen den ukrainischen Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten Yurii Sheliazhenko. Am 20. September beginnt der Prozess gegen ihn.
Laut dem deutschen Verein der Kriegsdienstverweigerer Connection wurden bislang in der Ukraine ein halbes Dutzend Fälle von Kriegsdienstverweigerern bekannt, die zum Teil zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurden. Andere hätte man an der Front eingesetzt. Auch in anderen europäischen Ländern scheinen ukrainische Wehrdienstverweigerer sicher – vorerst. Etwa eine Million Ukrainer sind nach dem 24. Februar nach Polen gekommen, darunter schätzungsweise 80.000 bis 120.000 Männer im wehrpflichtigen Alter. Doch der nationalkonservativen Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wird nachgesagt, nach einem erneuten Sieg bei den Wahlen Mitte Oktober dem ukrainischen Begehren nach "Rückführung" eines Teils ihrer Bürger entsprechen zu wollen.
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