In der Nähe von Sverdlikovo, einem kleinen Ort unweit der ukrainischen Grenze, versuchen ukrainische Truppen mit einem deutschen Marder-Schützenpanzer vorzurücken. Als sie an einer Schnellstraße stoppen, werden sie von russischen Kräften unter Beschuss genommen. Die Russen hatten den Vorstoß bereits durch eine Aufklärungsdrohne entdeckt. Es ist unklar, wie lange die Besatzung des Panzers bereits unterwegs war, doch der Angriff auf russisches Territorium scheint sorgfältig geplant worden zu sein und hat den Kreml völlig unerwartet getroffen.
Der Angriff in der Region Kursk stellt nach Einschätzung des im Exil lebenden und in Russland verurteilten Journalisten Dmitrij Kolesew das größte militärische Desaster der letzten anderthalb bis zwei Jahre für Russland dar. Im Gegensatz zu früheren Angriffen, die von der russischen Regierung als Aktionen von "Terroristen" dargestellt wurden, handelt es sich diesmal um einen koordinierten Einsatz regulärer ukrainischer Streitkräfte. Dies zwingt den Kreml dazu, sich der Realität eines unsicheren Russlands zu stellen. Infolgedessen wurde Generalstabschef Waleri Gerassimow einbestellt, um das Versagen seiner Einheiten zu erklären, und Präsident Wladimir Putin musste den nationalen Notstand ausrufen, was in Russland ebenfalls eine Premiere darstellt.
Während das ukrainische Militär und die Regierung in Kiew bisher keine detaillierten Informationen über die Kämpfe in Russland veröffentlicht haben, ließ Präsident Wolodymyr Selenskyj verlauten, dass Russland spüren solle, was es der Ukraine angetan habe. Die Reaktionen in Russland sind panisch, besonders unter den dortigen Militärbloggern, die widersprüchliche Berichte darüber liefern, wie viele Dörfer inzwischen unter ukrainischer Kontrolle stehen und ob die ukrainischen Truppen weiter vorrücken, ohne die Gebiete zu besetzen. Schätzungen zufolge könnten die ukrainischen Truppen bis zu 35 Kilometer in russisches Territorium vorgedrungen sein und rund 150 Quadratkilometer eingenommen haben. Diese Angaben sind jedoch nicht unabhängig überprüfbar.
Der ukrainische Vorstoß ist laut Beobachtern das Ergebnis eines Versagens der russischen Aufklärung. In den vergangenen Wochen hatten ukrainische Kräfte gezielt russische Kommunikationsanlagen zerstört. Laut dem russischen Militärblog Rybar wurden die Russen zusätzlich dadurch behindert, dass sie in dieser Region mit leicht störbaren chinesischen Funkgeräten arbeiteten. Außerdem fehlten durchgehende Verteidigungslinien und ausreichend Minenfelder.
In Moskau hat Generalstabschef Gerassimow bereits reagiert. Russische Reserven seien im Anmarsch. Russland ziehe derzeit Kräfte zusammen, um die offensichtliche Blamage so schnell wie möglich zu beenden. Am Freitag veröffentlichte die staatliche russische Nachrichtenagentur Ria Nowosti ein Video, das Militärkolonnen auf dem Weg nach Kursk zeigt.
Russland verlegt nach Medienberichten auch Teile seiner Luftstreitkräfte, darunter wichtige Su-34-Jagdbomber, vom Donbass nach Kursk. Dies könnte die ukrainische Armee im Donbass entlasten, die dort seit einigen Tagen unter starkem Druck steht. Der ukrainische Angriff könnte die russische Offensive verlangsamen oder gar stoppen. Darüber hinaus könnte Russland gezwungen sein, seine Truppen entlang der Front neu zu positionieren.
In Anbetracht der Tatsache, dass die westlichen Partner der Ukraine zuletzt kaum neue Waffenlieferungen angekündigt haben und der Druck wächst, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden, könnte der ukrainische Vorstoß bei Kursk auch darauf abzielen, Kiews Verhandlungsposition zu stärken.