In ihrer Rechtskoalition und den ihr nahestehenden Medien bestehen aber keine Zweifel, wer da angeblich die Regierung stürzen will: die internationalen Finanzmärkte, die Banken, die "poteri forti", also irgendwelche obskuren "starken Mächte", die im Hintergrund ihre Fäden ziehen. Also die klassischen Feindbilder aller Rechtspopulisten auf diesem Globus.
Der Grund für Melonis Nervosität ist der sogenannte "Spread" – ein Gespenst, das die italienische Politik in zyklischen Abständen immer wieder mal beschäftigt. Gemeint ist der Zinsaufschlag, den die Käufer von italienischen Staatsanleihen im Vergleich zu den deutschen Bundesschatzbriefen verlangen, die unter den Investoren als sicherere Schulden gelten. Der "Spread" ist ein Gradmesser für das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte in die Solidität der Haushaltpolitik der Staaten. In Italien ist dieses Vertrauen in den letzten Tagen gesunken: Der "Spread" stieg mehrfach bis an die 200-Punkte-Marke, auch am Donnerstag wieder. Das heißt: Die Anleger verlangen auf die italienischen Staatsanleihen inzwischen eine um bis zu 2 Prozent höhere Rendite als auf die Bundesschatzbriefe.
Und das kann ins Geld gehen: Der Schuldenberg Italiens ist während und nach der Pandemie noch einmal stark angestiegen und beträgt nun schon fast 3 Billionen Euro; das sind über 140 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes (zum Vergleich: Deutschlands Schuldenquote beträgt 66 Prozent). Ein Zinsanstieg von einem einzigen Prozent wird mittelfristig den Schuldendienst Italiens um 30 Milliarden Euro erhöhen (mittelfristig deshalb, weil die Staatsanleihen in der Regel mehrere Jahre Laufzeit haben und nicht alle auf einmal durch neue Schulden abgelöst werden müssen).
Finanzminister Giancarlo Giorgetti hat in dem letzte Woche vorgestellten mittelfristigen Finanzplan vorgerechnet, dass sich die Zinslast bereits im nächsten Jahr um 14 Milliarden Euro erhöhen wird. Bis 2026 wird sie sich im Vergleich zu 2020 auf über 100 Milliarden Euro verdoppeln. Das ist fast so viel, wie Italien für das öffentliche Gesundheitswesen ausgibt.
Das ist zwar schade um das viele Steuergeld, aber insgesamt ist ein "Spread" von 200 Punkten noch nicht alarmierend. Als die Rechtsregierung von Giorgia Meloni vor einem Jahr die Amtsgeschäfte von ihrem Vorgänger Mario Draghi übernahm, lag der Wert sogar noch etwas höher. Und die Differenz ist weit entfernt von den 575 Punkten, die im November 2012 erreicht worden waren: Damals war der kürzlich verstorbene Silvio Berlusconi Regierungschef gewesen – und musste unter dem Druck des "Spread" zurücktreten, um eine drohende Zahlungsunfähigkeit Italiens zu vermeiden. Berlusconi wurde damals vom ehemaligen EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti abgelöst, der einer Technikerregierung vorstand. Und genau dieser Präzedenzfall ist der Alptraum von Giorgia Meloni.
Italiens Schulden steigen zwar munter weiter, und Finanzminister Giorgetti sieht auch für das nächste Jahr ein Defizit von über 4 Prozent der Wirtschaftsleistung vor – aber von einer Krise wie 2012 scheint Italien derzeit noch weit entfernt: Mit dem ersten, vorsichtigen Staatshaushalt ihrer Regierung hatte Meloni gleich nach ihrem Amtsantritt viele Bedenken und Zweifel der Anleger zerstreut, und Giorgetti steht auch im Hinblick auf das Budget für 2024, so gut es mit den hohen Zinsen eben geht, auf der Bremse.
Die Opposition sprach denn auch in Bezug auf Melonis Verschwörungsängste von der "Paranoia einer Regierungschefin, die mit ihrem Latein am Ende ist und nicht mehr weiß, wie sie die Löcher im Staatshaushalt stopfen und gleichzeitig die teuren Wahlversprechen einlösen soll". Der frühere Finanzminister Giulio Tremonti setzte nach: "Es gibt kein großes Komplott, es gibt nur einen großen Schuldenberg", sagte Tremonti in dieser Woche. Er weiß, wovon er redet: Tremonti war im Jahr 2012 Berlusconis Finanzminister gewesen.