Zeitgleich mit seiner deutschen Aufenthaltserlaubnis ist auch sein belarussischer Pass abgelaufen. Nach einem neuen Erlass des autoritären Präsidenten Alexander Lukaschenko werden in den belarussischen Botschaften im Ausland jedoch keine Pässe mehr erneuert. "Ich muss eine schreckliche Entscheidung treffen", sagt Andrei. "Entweder werde ich in Deutschland zum illegal Immigrierten, oder ich gehe nach Belarus zurück, wo ich vermutlich verhaftet werde." Die Behörden in Minsk hätten es geschafft, das Leben der Belarussen selbst im Ausland zur Hölle zu machen.
Schätzungsweise 500.000 Menschen sind aus Belarus in den Westen geflohen, nachdem Lukaschenko zum Sieger der Präsidentschaftswahl vom August 2020 erklärt worden war, obwohl ihm von vielen Seiten Wahlbetrug vorgeworfen wurde. Anschließende Proteste wurden gewaltsam unterdrückt. Seit dem Erlass vom 4. September, die Verlängerung und neue Ausstellung von Pässen im Ausland zu stoppen, haben viele der Geflüchteten keine gültigen Reisedokumente mehr. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch spricht von einer drakonischen Maßnahme und einem Racheakt des Regimes gegenüber den Oppositionellen im Exil, denen politisch motivierte Verfolgung drohe, falls sie nach Belarus zurückkehren müssten.
Litauen und Polen, wo die meisten Exil-Belarussen leben, wollen den Betroffenen temporäre Ausländerpässe ausstellen. Aus dem estnischen Innenministerium verlautete, man werde den jeweiligen Einzelfall prüfen. Das polnische Außenministerium erklärte, man wolle in dieser Angelegenheit auch bei der Europäischen Union vorstellig werden, nannte dafür aber keinen konkreten Zeitplan. EU‑Sprecherin Anitta Hipper begrüßte die Übergangslösungen und bestätigte, dass die Situation insgesamt überprüft werde. Belarussen im Exil sollten die Behörden ihrer derzeitigen Aufenthaltsländer um Unterstützung ersuchen.
Aus dem Bundesinnenministerium hieß es, im Falle von Immigranten mit abgelaufenem Pass könnten die Behörden prüfen, ob es für sie angemessen sei, sich neue Dokumente in ihrem Heimatland zu besorgen. Anderenfalls könnte Deutschland Ersatzpapiere ausstellen. Für Andrei wäre dies dringend notwendig, denn er hat gerade seine Arbeitsstelle verloren und kann sich ohne eine weitere Aufenthaltserlaubnis nicht um einen neuen Job bewerben. Nach seiner Einschätzung will das Regime alle belarussischen Kräfte bestrafen, die als Gegner Lukaschenkos für Demokratie gekämpft hätten. Er selbst sei bei den Protesten von 2020 festgenommen und geschlagen worden, während sein Bruder eine siebenjährige Haftstrafe erhalten habe.
Lukaschenko selbst hat sich zu dem Erlass über belarussische Reisepässe nicht öffentlich geäußert. Der Vizechef der parlamentarischen Kommission für Internationale Angelegenheiten, Oleg Gaidukewitsch, erklärte, nur Extremisten hätten Angst davor, nach Belarus zurückzukehren. Der Erlass sei "ein ultimativer Schlag gegen die fünfte Kolonne im Lande". Wer schon immer fürs Ausland gearbeitet habe, solle auch da bleiben und von den Ländern einen neuen Pass besorgen.
Die im Exil lebende belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die 2020 gegen Lukaschenko angetreten war, betont, dass kein belarussischer Staatsbürger unter den gegebenen Umständen nach Hause zurückkehren sollte. Die Opposition habe einen "Pass des Neuen Belarus" entwickelt und werbe nun auf EU‑Ebene für dessen Anerkennung. Zwar ist Tichanowskajas Exilregierung bislang von keinem Land offiziell anerkannt worden, doch erklärte ihr außenpolitischer Sprecher Waleri Kawalewski, Dutzende Staaten hätten sich für die Idee eines solchen neuen Passes offen gezeigt. Einzelheiten nannte er nicht.
Laut Kawalewski brauchen zurzeit mindestens 62.000 belarussische Staatsbürger im Ausland dringend einen neuen Pass. "Dieser wird nicht nur ein Symbol sein, sondern auch ein praktisches Mittel, um die große belarussische Gemeinde in aller Welt zu vereinen", betonte er.
Unabhängige Experten der UN‑Menschenrechtskommission riefen die Regierung in Minsk dazu auf, den Erlass vom 4. September rückgängig zu machen. Dies sei auch notwendig, um den im Ausland geborenen Kindern belarussischer Eltern deren Staatsbürgerschaft zu gewähren. An alle Gastländer erging der Appell, Belarussen mit abgelaufenem Pass auf keinen Fall auszuweisen.
Der belarussische Künstler Aleh Osipau, der in die Ukraine geflohen war und seine Ausweispapiere in den dortigen Kriegswirren verlor, sieht in dem "Pass des Neuen Belarus" die einzige Hoffnung für sich und seine Landsleute in derselben prekären Situation. "Die Welt hat 2020 mit Begeisterung den Mut der belarussischen Opposition beobachtet", sagt er. "Nun brauchen wir dringend die Hilfe der Welt für all diejenigen, die nach ihrem Kampf gegen die Diktatur in eine missliche Lage geraten sind."