Grüne und SPD hatten den Antrag auf Entlassung Aiwangers damit begründet, dass dessen Erklärungen zu den Vorwürfen um ein antisemitisches Flugblatt aus Schulzeiten "völlig unzureichend" seien. Sein Umgang mit der Affäre mache ihn für sein Amt untragbar, Aiwanger schade dem Ansehen Bayerns in der Welt. Auch Anträge von Grünen und SPD sowie der FDP zur Befragung von Ministerpräsident Markus Söder und seinem Stellvertreter Aiwanger hatten CSU und Freie Wähler zuvor mit ihrer Mehrheit im Gremium abgelehnt. Söder und Aiwanger hätten im Umgang mit den Vorwürfen zahlreiche Fragen offengelassen, so hatte Tim Pargent (Grüne) argumentiert – allerdings ohne Erfolg. Der Antrag scheiterte an den Fraktionen von CSU, Freien Wählern und AfD. Tobias Reiß von der CSU sprach in diesem Zusammenhang von einer "Showeinlage", Fabian Mehring von den Freien Wählern wähnte sich in einem "Tribunal".
Die Freien Wähler sind seit Jahren klar auf ihren Vorsitzenden zugeschnitten. Jetzt, wo Bayerns Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger wegen des Skandals um das Auschwitz-Pamphlet wackelt, droht auch die Partei in die Krise abzurauschen. Der Zwischenausschuss war überhaupt erst auf Antrag von Grünen, SPD und FDP zusammengekommen. Das Gremium ist in der Zeit kurz vor Landtagswahlen für die Beratung dringender Angelegenheiten zuständig, ihm gehören aktuell 51 Abgeordnete an. Söder und Aiwanger nahmen im Landtag nicht zu der Affäre Stellung. Sowohl der CSU-Vorsitzende als auch der Freie-Wähler-Chef meldeten sich ungeachtet zahlreicher Bitten und Aufforderungen der Opposition nicht zu Wort. Die Sitzung des Gremiums, das kurz vor Landtagswahlen für dringende Angelegenheiten zuständig ist, ging nach rund zwei Stunden zu Ende.
Grünen-Landtagsfraktionschef Ludwig Hartmann bezeichnete den Umgang von Söder und Aiwanger mit der Flugblatt-Affäre als "einer bayerischen Regierung unwürdig". Hartmann richtete bei der Sondersitzung im bayerischen Landtag in München mehrere Dutzend Fragen zur Aufarbeitung der Affäre an beide. "Viele Fragen sind offen, sie werden sie wahrscheinlich nie beantworten." Der FDP-Fraktionschef im bayerischen Landtag, Martin Hagen, kritisierte Aiwanger ebenfalls für seinen Umgang mit der Affäre, sich von Rücktrittsforderungen von SPD und Grünen aber distanziert. "Ich halte Sie nicht für einen Antisemiten", sagte Hagen bei der Sondersitzung an die Adresse Aiwangers. "Was ein Mensch mit 16 Jahren gesagt oder getan hat, darf ihn nicht ein Leben lang für politische Ämter disqualifizieren."
SPD-Landtagsfraktionschef Florian von Brunn warf Aiwanger vor, sich in der Flugblatt-Affäre zum Opfer zu stilisieren. "Es geht aber nicht um Sie. Es geht um das Amt und das Ansehen des Freistaats Bayern", sagte von Brunn. Sich zum Opfer zu machen sei "unwürdig". Von Brunn warf Aiwanger vor, es sei auch bei dessen Rede auf einer Kundgebung in Erding deutlich geworden, dass er Menschen aufwiegele, um daraus politisch Profit zu schlagen. Das sei für ihn ein klares Zeichen für Rechtspopulismus.
Die CSU-Fraktion steht hinter Söders Entscheidung, Aiwanger trotz aller Vorwürfe im Amt zu belassen. Das sagte der parlamentarische Geschäftsführer Tobias Reiß bei der Sondersitzung. Söder habe eine Entscheidung mit Augenmaß und Haltung getroffen und sich dabei nicht von "Geschrei" der Opposition beeindrucken lassen. "Unser Ministerpräsident hat nicht taktiert, sondern er hat tatsächlich den Takt der Aufklärung vorgegeben." Es gebe aber eben keinen Beweis, dass Aiwanger das Hetzblatt zu Schulzeiten verfasst oder verbreitet habe. "Dagegen steht seine Erklärung, dass er es nicht war." Reiß sagte: "Entweder es gibt klare Beweise oder eine Unschuldsvermutung – das ist unser Rechtsstaat."
Reiß übte aber gleichwohl im Namen der CSU-Fraktion harsche Kritik am Freie-Wähler-Chef. Dessen Glaubwürdigkeit habe durch den Umgang mit den im Raum stehenden Vorwürfen und das Krisenmanagement Schaden genommen. Aufrecht und mutig sein müsse man "nicht nur im Bierzelt", sagte Reiß. Aiwanger habe sich dann spät, aber doch für mögliche Verfehlungen entschuldigt, sagte Reiß. So wie sich die Dinge nun darstellten und mit der Entscheidung Söders sei die Sache für die CSU beendet.
Der Fraktionschef der Freien Wähler im bayerischen Landtag, Florian Streibl, lobte das Tempo bei der Aufklärung im Zuge der Flugblatt-Affäre um Parteichef Hubert Aiwanger gelobt. "Innerhalb einer Woche diese Aufklärung zu liefern, ist bei dem Sachverhalt sehr gut", sagte Streibl bei der Sondersitzung. Man müsse Aiwanger "zugestehen, dass ein Statement vielleicht auch mal etwas länger dauert".
Der Vize-Ministerpräsident habe letztlich aber "glaubhaft versichert, nicht der Verfasser des Flugblatts zu sein", und sich entschuldigt, sagte Streibl. "Es erfordert Mut, Fehler einzugestehen und diesen Mut hat Hubert Aiwanger bewiesen." Der Opposition im Landtag warf Streibl dagegen Doppelmoral vor. Durch die Vorwürfe sei "für amerikanische Wahlkampfverhältnisse gesorgt" worden, während den Freien Wählern und Aiwanger Populismus vorgeworfen werde.
Vertreter der AfD im bayerischen Landtag verteidigten Aiwanger. "Was wir da erlebt haben, war ein politisches Schmierentheater", sagte der Fraktionsvorsitzende Ulrich Singer. Der Freie-Wähler-Chef sei von Ministerpräsident Markus Söder mit dessen Fragenkatalog behandelt worden "wie ein Schuljunge". Zudem lägen die Vorfälle mehr als 35 Jahre zurück und Aiwanger habe sich inzwischen entschuldigt, sagte Singer. Dass Grüne und SPD ihm nicht zugestanden hätten, sich in der Zwischenzeit geändert haben zu können, sei "unerhört". Der AfD-Landtagsabgeordnete Ingo Hahn solidarisierte sich ebenfalls mit Aiwanger: "Als AfD wissen wir nur allzu gut, was es bedeutet, im Kreuzfeuer zu stehen."
Aiwanger hatte vor zwei Wochen zunächst schriftlich zurückgewiesen, zu Schulzeiten ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben, über das die "Süddeutsche Zeitung" berichtet hatte. Gleichzeitig räumte er ein, es seien "ein oder wenige Exemplare" in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf erklärte sich sein Bruder zum Verfasser des Pamphlets. In der Folge wurden immer mehr Vorwürfe zu Aiwangers damaligem Verhalten erhoben. Nach mehreren Tagen entschuldigte er sich, ging aber zugleich zum Gegenangriff über und beklagte eine politische Kampagne gegen sich. Söder hält aber an ihm fest: Eine Entlassung wäre nicht verhältnismäßig, erklärte der Regierungschef am Sonntag.
Die Freien Wähler machen inzwischen Tag für Tag in teilweise scharfen Worten mit dem Vorwurf einer Schmutzkampagne Wahlkampf. Aiwanger sagte in dem Zusammenhang in einem Interview sogar: "In meinen Augen wird hier die Schoah zu parteipolitischen Zwecken missbraucht." Auf Kritik des Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, der fehlende "Reue und Demut" bei Aiwanger beklagt hatte, war der Freie-Wähler-Vorsitzende zuletzt auf Nachfrage nicht eingegangen.
Die Fronten im Landtag sind klar: CSU und Freie Wähler wollen ihre Koalition auch nach der Wahl am 8. Oktober fortsetzen. Söder hatte auch auf dem Höhepunkt der Affäre um seinen Vize keine Gelegenheit ausgelassen, sich zu den Freien Wählern zu bekennen. Ein mögliches schwarz-grünes Regierungsbündnis schließt er weiter kategorisch aus.
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