"Für die Kinder soll es wie ein Spiel aussehen, aber wenn sie älter werden, wird das Spiel zur Realität", sagt der ukrainische Historiker Vladyslav Havrylov von der Georgetown University. Die schleichende Militarisierung der Gesellschaft beginnt bereits mit acht Jahren, wenn Jungen und Mädchen bei Junarmija zu strammen Patriotinnen und Patrioten erzogen werden. Eines Tages sollen sie in den Krieg ziehen und enden womöglich als Kanonenfutter für Putin. Inzwischen rekrutiert die Jugendarmee auch ukrainische Kinder in den besetzten Gebieten. Sowohl auf der Krim als auch in den besetzten Gebieten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson gibt es Ableger der Junarmija.
Alles begann 2016, als der russische Präsident Wladimir Putin und sein Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Jugendarmee ins Leben riefen. Schon damals stand das Verteidigungsministerium unter Druck, auf den Rückgang der Freiwilligen in der russischen Armee zu reagieren. Die Junarmija soll Kinder ab acht Jahren für das Militär begeistern, auf den antiwestlichen Kurs einschwören und zu loyalen Kremlunterstützern erziehen. Heute hat die Jugendarmee mehr als 1,2 Millionen Mitglieder und wird vom Kreml mit rund 75 Millionen Euro jährlich finanziert.
"Junarmija ist das ideale Mittel für Russland, um seine Propaganda in eine kindgerechte Sprache zu übersetzen und zu verbreiten", sagt der ukrainische UN-Jugenddelegierte Kyrylo Demchenko. Russland versuche, die ukrainische Identität der Kinder in der besetzten Ukraine auszulöschen und durch eine russische zu ersetzen. "Es gibt keinen besseren Weg, Kinder und Jugendliche mit russischer Propaganda zu beeinflussen."
In der Jugendarmee wird schon den Jüngsten beigebracht, "für das Vaterland zu sterben". "Die Kinder bekommen den Umgang mit Waffen und eine spezielle Kampfsportart beigebracht", berichtet Havrylov. "Später versuchen sie, diese Kinder in die russische Armee zu schleusen."
Schusswaffe zusammensetzen, zielen und abdrücken. Kinder lernen das Töten, werden mit antiwestlicher Propaganda überschüttet und mit militärischen Heldentaten der russischen Armee indoktriniert. Es gibt Unterricht in russischer Militärgeschichte und russischer Politik und paramilitärische Wettkämpfe in Sommerlagern der Jugendarmee. Jedes Jahr findet ein großes Militärspiel statt, bei dem sich Junarmija-Mitglieder aus ganz Russland und seit einigen Jahren auch aus den besetzten Gebieten der Ukraine duellieren.
In der Jugendarmee treffen die Kinder auf russische Soldaten, die im Krieg gegen die Ukraine gekämpft haben. Schon die Jüngsten werden mit der Propaganda manipuliert, dass die Ukraine ausgelöscht werden müsse und dass es eine Ehre sei, für Russland in den Krieg zu ziehen. Ihnen werde systematisch beigebracht, die Ukraine zu hassen, damit sie später mit Waffen gegen ihr eigenes Land vorgingen, so Havrylov. "Die Junarmija rekrutiert Kinder auch in vielen Schulen in den besetzten Gebieten, zum Beispiel in Mariupol oder in Sewastopol", erklärt er. An Feiertagen, die für das russische Militär besonders wichtig sind, veranstaltet die Jugendarmee Feiern, bei denen die Kinder Uniform tragen.
Die Kremlführung gibt ihre aggressive Politik, ihre Ideologie und ihre Großmachtphantasien an die Kinder weiter, damit die nächste Generation und damit auch die nächsten Entscheidungsträger diese Politik fortsetzen. "Russland zeigt den Kindern, wie cool es ist, in der Armee zu dienen und Russlands Machtanspruch im Ausland zu demonstrieren", so der UN-Delegierte Demchenko. Er befürchtet, dass die nächste Generation Putins Expansionspolitik fortsetzen wird. "Wir wollen keine weitere Generation aggressiver Russen, die andere Länder bedrohen", sagt Demchenko.
Er beobachtet, dass die Jugendarmee sehr erfolgreich bei der Eingliederung von Kindern in den russischen Militärapparat ist. In den besetzten Gebieten der Ukraine hätten Kinder kaum eine Chance, sich der Propaganda zu entziehen. "Junarmija ist Russlands perfideste Form der Gehirnwäsche für Kinder in den besetzten Gebieten", sagt er. "Wir verlieren einen Teil der jungen Generation in der Ukraine an die russische Propaganda."
Der Erfolg der russischen Jugendarmee ist auch einigen Sportstars zu verdanken: An der Spitze der Junarmija steht der in Russland sehr beliebte 26-jährige Nikita Nagorny, Olympiasieger und Weltmeister im Kunstturnen. Nagorny ist charismatisch und gutaussehend, hat auf Instagram mehr als 800.000 Follower und verbreitet auf Youtube Videos im Influencer-Stil, die zum Teil Millionen Menschen anschauen.
"Der sportliche Erfolg der russischen Olympiastars soll auf Junarmija abfärben", erklärt Demchenko die Strategie. Wer Mitglied von Junarmija ist, wird im Leben Erfolg haben, so die Botschaft. Nagorny ist nicht der einzige russische Sportstar bei der Jugendarmee. Schon sein Vorgänger Dmitri Trunenkow war Olympiasieger im Bobfahren. Wegen Dopings wurde er zwar vom Weltverband gesperrt, inzwischen ist der Leutnant aber Dozent an einer der wichtigsten russischen Militäruniversitäten. Ein weiteres Vorstandsmitglied der Jugendarmee ist Elena Slesarenko, Olympiasiegerin im Hochsprung, und im Westen ebenfalls wegen Dopings in Verruf geraten.
Demchenko sieht in der Auswahl prominenter Vorbilder aus dem Sport eine psychologische Taktik, um die Jugendarmee durch erfolgreiche Stars an der Spitze für Kinder attraktiv zu machen. "Diese olympischen Athleten erzählen die Geschichte ihres Erfolges – und jedes Kind träumt davon, einmal erfolgreich zu sein."
Mit der steigenden Zahl russischer Toter und Verwundeter im Krieg gegen die Ukraine wird die Rolle der Jugendarmee immer wichtiger – und für Beobachter immer beunruhigender. Havrylov und Demchenko sorgen sich um die vielen ukrainischen Kinder in den von Russland besetzten Gebieten. Bereits zu Beginn des Krieges im Februar 2022 hatte die Jugendarmee nach russischen Angaben 29.000 Kinder auf der Krim und etwa 7.500 in Donezk und Luhansk rekrutiert.
Seitdem gab es zahlreiche Berichte über Zwangsrekrutierungen, auch in den besetzten Gebieten der Regionen Saporischschja und Cherson. "Hinzu kommt, dass Russland unter einer großen demografischen Krise leidet und es mehr nicht so viele junge Menschen gibt, die für den Krieg rekrutiert werden können", sagt Havrylov. Russland versuche nun, diesen Nachwuchs aus den besetzten Gebieten der Ukraine zu rekrutieren. "Es ist grausam, dass ukrainische Kinder gezwungen werden könnten, für Russland zu kämpfen und auf ukrainische Soldaten zu schießen."
Die Eltern können in den besetzten Gebieten kaum etwas dagegen ausrichten. Die Angst vor den russischen Besatzern ist groß und sie müssen befürchten, in der ohnehin schwierigen Situation der Besatzung ihre Arbeit zu verlieren, wenn sie Widerstand leisten.
Die Europäische Union hat die Junarmija im Sommer 2022 auf ihre Sanktionsliste gesetzt und auch explizit einige führende Mitglieder sanktioniert. Darunter befindet sich auch Vladimir Kovalenko, Stabschef der Regionalabteilung von Junarmija auf der Krim. Viele Spitzenfunktionäre fallen jedoch noch immer durch das Raster der Sanktionen oder Athleten dürfen bei internationalen Wettkämpfen weiterhin antreten.
Nach der Befreiung der besetzten ukrainischen Gebiete werde viel Arbeit auf die Ukraine zukommen, sagt Havrylov, um die Kinder wieder in die ukrainische Gesellschaft zu integrieren und die Propaganda in ihren Köpfen zu bekämpfen. "Mit jedem Tag, an dem sie der russischen Propaganda ausgesetzt sind, wird es schwieriger."