Jahrzehntelang wurde der riesige monolithische Granitblock mitten auf dem Friedhof im schweizerischen Chur von Passanten ignoriert und niemand schien genau zu wissen, was es war. Aber das 13 Tonnen schwere Steinmonument, das die nahe gelegenen Grabsteine in den Schatten stellt, sorgt jetzt für Kontroversen und Verlegenheit. Recherchen eines lokalen Journalisten haben Verbindungen zu Nazi-Deutschland und zu den eigenen unangenehmen Beziehungen der neutralen Schweiz zu ihren Nachbarn aus dem Zweiten Weltkrieg aufgedeckt. Der Churer Friedhof liegt im Zentrum der Stadt. Viele Menschen, wie die Radiojournalistin Stefanie Hablützel, kommen täglich auf dem Weg zur Arbeit oder beim Einkaufen daran vorbei.
Heutzutage ist das Denkmal auf dem Friedhof ungepflegt mit Moos bedeckt. Die Gravuren darauf sind schwer zu erkennen. "Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Kriegerdenkmal", sagt Stefanie und weist auf einen schwachen Schriftzug hin: "1914 - 1918; hier ruhen deutsche Soldaten ... hier liegen deutsche Soldaten." Aber warum sollten hier deutsche Soldaten beerdigt werden? Tatsächlich wurden während des Ersten Weltkriegs Tausende von verwundeten Kriegsgefangenen, Franzosen und Briten sowie Deutsche, in der Schweiz behandelt und interniert. Einige starben an ihren Verletzungen, andere während der Grippepandemie von 1918.
Gebaut wurde Churs Denkmal aber erst 1938. "Das ist 20 Jahre nach dem Tod dieser Männer", sagt Stefanie. "Es wurde nicht gebaut, um diese toten Soldaten zu betrauern, es wurde aus Propagandagründen gebaut, für das Nazi-Regime." Der Schweizer Historiker Martin Bucher erklärt, dass, als die Nazis in Deutschland an Macht wuchsen, ihre Propaganda eine sektenähnliche Verehrung ihrer Kriegstoten beinhaltete. In den 1930er Jahren wurde der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge Teil von Hitlers Propagandamaschinerie. Seine Aufgabe ist es, sichtbare Zeichen nationalsozialistischer Macht bei Deutschlands Nachbarn und in der Heimat zu setzen. Damals lebten viele tausend Deutsche in der Schweiz und sie seien organisiert gewesen, sagt Martin. "In der Schweiz gab es all diese Organisationen, die Sie aus Deutschland kennen. Die Nationalsozialistische Partei, die Deutsche Arbeitsfront, die Hitlerjugend. Sie waren alle hier, aber nur für Deutsche, nicht für Schweizer."
Der Volksbund der Deutschen Kriegsgräberfürsorge legte ehrgeizige Pläne für den Bau eines riesigen Mausoleums im schweizerischen St. Gallen vor. Dies wurde von den Schweizer Behörden abgelehnt. Aber das Denkmal in Chur wurde genehmigt. Poliert und graviert in München mit der Lieblingsschrift Fraktur der Nazis, wurde es am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nach Chur geliefert. Damals, sagt Martin, müssten die Einwohner von Chur gewusst haben, was das war. "An Nazi-Feiertagen haben sie Hakenkreuze an diesem Denkmal angebracht … die Leute hätten gesehen, dass es ein Nazi-Denkmal war." Einige waren eindeutig unzufrieden. Aber einige werden unterstützend gewesen sein. Schweizer Sympathisanten des nationalsozialistischen Deutschlands waren im Kanton Graubünden, dessen Hauptstadt Chur ist, gut dokumentiert. Aber die heimischen faschistischen Parteien in der Schweiz haben sich nie wirklich durchgesetzt, sie haben 1935 nur zwei Sitze im Schweizer Parlament bekommen und sind nie wieder angetreten.
Während die Schweiz noch immer kein offizielles Mahnmal für den Holocaust hat, hat das Parlament im März letzten Jahres Pläne für eines genehmigt. Es gibt jedoch rund 50 inoffizielle Denkmäler. Während des gesamten Krieges waren die Deutschen in der Schweiz weiterhin in der NSDAP aktiv und zeigten weiterhin ihre Sympathien für die Nazis. Und die Schweizer, die wie üblich hofften, sich aus den Kämpfen herauszuhalten, machten Kompromisse mit Berlin, sammelten Nazi-Gold und schoben jüdische Flüchtlinge ab. Dann, nur einen Tag nach Kriegsende, brach die neutrale Schweiz aus dem Käfig aus. "Es gab eine riesige Säuberung", sagt Martin. "Die Schweizer Regierung hat versucht, Schweizer Nazis zu bestrafen, es gab Prozesse." Deutsche Nazis wurden inzwischen vertrieben. "Ich glaube, danach haben viele gedacht, jetzt ist Schluss, die Nazis sind weg, kein Problem", sagt Martin. "Und ich glaube, sie haben dieses Denkmal vergessen."
Diese kollektive Amnesie war so vollständig, dass heute für Menschen wie Stefanie, die Jahrzehnte nach dem Krieg geboren wurde, die Ursprünge des Denkmals und die Nazi-Präsenz in der Schweiz eine Offenbarung waren. Sogar der örtliche Parlamentsabgeordnete Jon Pult war überrascht. "Die Schweiz war nicht Nazi-frei, das wusste ich", sagt er. "Aber ich wusste nichts von diesem Denkmal. "Ich wohne vielleicht 500 Meter von dem Friedhof entfernt, auf dem dieser Stein ist, und ich bin wahrscheinlich hundert Mal an diesem Stein vorbeigegangen und ich habe nie bemerkt, dass es natürlich ein Nazi-Stein ist. Jetzt, wo ich weiß, ist es sehr klar."
Trotz einer gewissen Verlegenheit haben nur sehr wenige Leute vorgeschlagen, das Denkmal abzureißen. Aber noch weniger, sagt Stefanie, sagen, man solle es so lassen, wie es ist. Stattdessen scheint sich ein Konsens über einen Vorschlag zu bilden, diese Periode in der Schweizer Geschichte erneut zu untersuchen und bekannt zu machen, so wie die Schweiz ihre Behandlung jüdischer Flüchtlinge während des Krieges erneut überprüfen und sich dafür entschuldigen musste. "Ich denke, es sollte in Chur bleiben", sagt Martin und fügt hinzu: "Aber ich finde es wichtig, den Leuten zu sagen, warum es da ist. Vielleicht kann es ein Denkmal sein, um an all die Menschen zu erinnern, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Wir sollten darüber eine Wissenskultur schaffen, denn bekanntlich besteht immer die Gefahr faschistischer Ideologien, totalitärer Ideologien, wie wir sie jetzt zum Beispiel in Russland sehen."
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