Ein paar Schritte entfernt stehen eine kleine geschmückte Litfaßsäule und eine bescheidene orthodoxe Glaubensstätte. Wenige Gehminuten vom berühmten Weißen Haus an der Moskwa entfernt, wirkt das Andenken an jene zwei dramatischen Wochen im Herbst 1993, als die Verfassungskrise zwischen dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin und dem gesetzgebenden Volksdeputiertenkongress eskalierte, heute sehr provisorisch. Der Konflikt endete damals in einem militärischen Schlagabtausch, den Jelzin gewann: Vor genau 30 Jahren ließ er die oberen Stockwerke des damaligen Parlaments am 4. Oktober von der naheliegenden Nowoarbatskij-Brücke mit Panzern beschießen. Die Bilder der vom Kugelhagel und von Bränden rußgeschwärzten und demolierten Fassade des Weißen Hauses, in dem sich die verbarrikadierten Mitglieder des Obersten Sowjets ergeben mussten, gingen um die Welt.
So dramatisch die Ereignisse damals waren, so schnell wurden sie ad acta gelegt. Dass Jelzin rohe Gewalt angewandt hatte, um den Konflikt zu beenden, wurde ihm im Westen nicht groß angekreidet. Zwei Jahre zuvor war er es gewesen, der sich vor dem Weißen Haus verschanzt und damit entscheidend dazu beigetragen hatte, den Augustputsch von 1991 gegen Michail Gorbatschows Reformkurs zum Scheitern zu bringen. Jelzin galt im Westen daher als Garant für demokratische und marktwirtschaftliche Reformen. Aus denselben Gründen unterstützte auch ein Teil der russischen Intelligenzija damals den russischen Staatsführer.
Sie übersahen jedoch, dass ein tieferliegendes Problem bestand, das mit Jelzins Sieg nur übertüncht wurde. Die Kompetenzen zwischen der Exekutive, die in den Händen des Präsidenten lag, und der Legislative, für die der Oberste Sowjet und die von ihm geleiteten Volksdeputiertenkongresse verantwortlich zeichneten, waren komplett unterschiedlich aufgeteilt. Gleichzeitig herrschte zwischen dem national-kommunistischen Parlament und dem reformorientierten Präsidenten viel Uneinigkeit.
Hinzu kamen persönliche Abneigungen zwischen den an diesem Machtkampf entscheidend beteiligten Figuren: Jelzin auf der einen Seite und sein sich von ihm abwendender Vizepräsident Alexander Ruzkoi sowie der aus Tschetschenien stammende Vorsitzende des Obersten Sowjet, Ruslan Chasbulatow, auf der anderen Seite. Alle drei waren Charaktere, die nicht unbedingt zum Kompromiss neigten.
Die Meinungsverschiedenheiten nahmen zu, als sich in der breiten Öffentlichkeit Unmut über den Radikalreformer und Jelzin-Schützling Jegor Gaidar zusammenbraute. Der 35-Jährige hatte in dem postkommunistischen Land im Winter 1992 die Preise freigegeben – mit der Konsequenz, dass die Lebenshaltungskosten bei vielen Waren innerhalb kürzester Zeit um das 25-Fache stiegen, und das vor dem Hintergrund einer zusammengebrochenen Industrie, steigender Arbeitslosigkeit und laufend ausfallender oder verzögerter Lohnzahlungen.
Im April 1992 übte der Volksdeputiertenkongress bei seiner sechsten Sitzung offene Kritik an der Regierung und weigerte sich, die sogenannten Belowescher Vereinbarungen von 1991 zu ratifizieren, mit denen die Sowjetunion aufgelöst werden sollte. Auf der folgenden siebten Sitzung im Dezember 1992 lehnten die Abgeordneten Gaidars Kandidatur für das Amt des Premierministers ab und stimmten für Verfassungsänderungen, die die Befugnisse des Präsidenten einschränken sollten.
Die Gesetzesänderungen traten schließlich einige Monate später im März 1993 in Kraft, nachdem der Volksdeputiertenkongress bei einer außerordentlichen achten Sitzung einen Kompromiss abgelehnt hatte.
Als Reaktion darauf kündigte Jelzin eine Woche später an, die Verfassung auszusetzen. Gleichzeitig führte er das sogenannte "Sonderverfahren zur Regierung des Landes" ein. In einer Fernsehansprache begründete er die Maßnahme mit der Weigerung des Volksdeputiertenkongresses, die notwendigen Maßnahmen zur "Verbesserung des Regierungshandelns" zu ergreifen. Darum werde nun er, Jelzin, dies nun selbst in die Hand nehmen.
Das Verfassungsgericht der Russischen Föderation bezeichnete einige Ankündigungen in Jelzins TV-Ansprache als verfassungswidrig, und der Volksdeputiertenkongress berief noch im März 1992 eine außerordentliche neunte Sitzung ein, um ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten einzuleiten. Bei der Abstimmung darüber kam die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit allerdings knapp nicht zustande.
Nachdem die Amtsenthebung gegen ihn gescheitert war, stellte Jelzin der gesamten Bevölkerung am 25. April 1993 die Vertrauensfrage für seine Reformpolitik, die er mit knapp 55 Prozent für sich entscheiden konnte. Der Präsident hatte damit ein starkes Zeichen für seine demokratische Legitimation gesetzt, aber es fehlte ihm ein verfassungsrechtlicher Mechanismus zur Umsetzung seines Sieges. Wie zuvor konnte ihm die Legislative bei der Umsetzung seiner Politik einen Strich durch die Rechnung machen.
Was folgte, war ein Hin und Her, bei der jede Seite ihre Macht auszuspielen versuchte. Erst legte Jelzin den Entwurf für eine neue Verfassung vor, der Volksdeputiertenkongress konterte mit seinem – damit völlig unvereinbaren – Gegenvorschlag. Der Präsident versuchte seinen Vize Ruzkoi zu entlassen, der sich auf die Seite des Parlamentes geschlagen hatte – vergeblich. Jelzin ernannte Gaidar zum stellvertretenden Ministerpräsidenten – eine Berufung, die der Oberste Sowjet als "inakzeptabel" ablehnte: "Der Präsident erlässt Dekrete, als ob es keinen Obersten Sowjet gäbe, und der Oberste Sowjet setzt Dekrete aus, als ob es keinen Präsidenten gäbe", schrieb die Tageszeitung "Iswestija" im August 1993 zur Lage.
Am 21. September 1993 wurde es Jelzin zu bunt. Mit seinem handstreichartigen und berühmt-berüchtigten "Erlass 1400″ löste er den Volksdeputiertenkongress und den Obersten Sowjet auf und setzte eine Abstimmung über die neue Verfassung sowie Neuwahlen für Dezember 1993 an.
Nach diesem Affront gab es für beide Seiten kein Zurück mehr. Der Oberste Sowjet antwortete mit Jelzins Absetzung, vereidigte Ruzkoi zum Nachfolger und verschanzte sich im Weißen Haus. Vor dem belagerten Gebäude, in dem die Stadtverwaltung den Strom und die Heizung abgestellt hatte, versammelten sich noch am Abend des 21. September 1500 Menschen – politische Aktivisten, Nationalisten, Kommunisten, Militärangehörige und jene Leute, die die Nase von Gaidars Reformen voll hatten. Es kam immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen. Auch das Verfassungsgericht meldete sich wieder zu Wort, erklärte Jelzins Dekret für ungültig und ihn selbst als Präsidenten für abgesetzt.
Die Parlamentarier waren schließlich die erste Seite, die sich dazu entschloss, die Angelegenheit mit Gewalt für sich zu entscheiden. Als Gegenpräsident Ruzkoi am 3. Oktober 1993 sah, dass am Oktjabrskaja-Platz Zehntausende Menschen gegen Jelzin demonstrierten, erteilte er den Befehl zur Besetzung des Moskauer Rathauses. Bei der sich anschließenden Stürmung des Gebäudes starben zwei Polizisten, und die Demonstranten bemächtigten sich mehrerer Armeefahrzeuge, die fliehende Soldaten zurückgelassen hatten. Von diesen Bildern offensichtlich beeindruckt, forderte Ruzkoi seine Anhänger nun zur Einnahme des Fernsehturms Ostankino auf. Bereitschaftspolizisten in großer Zahl erwarteten die Meute vor dem Gebäude, und es kam sogar zum Einsatz von Granatwerfern, doch die Demonstranten erreichten immerhin, dass der Erste Kanal an diesem Abend nicht mehr auf Sendung gehen konnte.
Allerdings hatte Jelzin nun jeden Grund, seinerseits die Anwendung von Gewalt zu rechtfertigen. Er rief für Moskau den Ausnahmezustand aus und ließ unter den Augen der Weltöffentlichkeit – der US-Nachrichtensender CNN berichtete live – die Panzer auffahren und das Weiße Haus sturmreif schießen. Er profitierte davon, dass die Armee mehrheitlich auf seiner Seite stand. Vergeblich versuchte der frühere General Ruzkoi, mit einem Anruf beim Radiosender Echo Moswki seine früheren Waffenbrüder aus dem Weißen Haus heraus zur Meuterei aufzurufen – er drang nicht durch. Er und die anderen Anführer mussten aufgeben und wurden festgenommen. Lange Haftstrafen blieben ihnen aber erspart. Sie wurden relativ schnell rehabilitiert.
Eine eindeutige Beurteilung der russischen Verfassungskrise von 1993 fällt bei den Beobachtern heute sehr unterschiedlich aus. Für die Moskauer Politologin Lilja Schewtsowa war sie der entscheidende Moment, an dem Russland anfing, sich wieder zur Autokratie zu entwickeln. "Leider hat sich Boris Jelzin damals entschieden, den Weg zur Demokratie doch nicht einzuschlagen", sagt sie. Tatsächlich ist die Gewaltenteilung in der russischen Verfassung, die im Dezember 1993 angenommen wurde und mit wenigen Änderungen bis heute in Kraft ist, sehr zugunsten des Präsidentenamtes und zulasten des Parlamentes verschoben worden. Da das ohne Zweifel im Sinne Jelzins war, ist sein politisches Vermächtnis heute getrübt, wenngleich Russland unter seiner weiteren Amtsführung bis zum Jahr 1999 durchaus noch in Ansätzen ein pluralistischer Staat mit freier Meinungsäußerung und demokratischen Zügen war.
Doch die Möglichkeit zum heutigen Machtmissbrauch durch das russische Regime mit einem diktatorischen Präsidenten und zu Verfassungsorganen ohne echte Einwirkungsmöglichkeiten wurde in Jelzins Russland angelegt. Dass sich die Krise zwischen Jelzin, Chasbulatow und Ruzkoi so sehr zuspitzte und sie keinen Kompromiss fanden, um zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren, war aber nicht nur der Fehler des Präsidenten: Hans-Henning Schröder, ehemaliger Russland-Experte bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sagte der Deutschen Welle am 25. Jahrestag des Sturms auf das Weiße Haus: "Es war ein Konflikt zweier Verfassungsorgane, die beide durch Wahlen legitimiert waren." Der Konflikt sei "fast unausweichlich" gewesen. Nachdem Jelzins Gegner zum bewaffneten Widerstand übergegangen seien, erscheine "der Einsatz von Gewalt seitens der Staatsmacht klar".
Noch eindeutiger fällt das Urteil des Soziologen Lew Gudkow aus, früherer Direktor des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstitutes Lewada. Für ihn war es die "Niederschlagung einer kommunistischen Rebellion". Der unabhängige russische Politologe Leonid Radsichowskij wiederum erkennt kaum einen Sinn in dem ganzen Geschehen, das er als "eine sinnlose und gnadenlose Konfrontation zwischen zwei Machtblöcken" bezeichnet, "die in Wirklichkeit keine Meinungsverschiedenheiten hatten, außer blindem Gruppenhass und einem Streit darüber, wer wen in die Erde bringt".
War der Tod von 158 Moskauerinnen und Moskauern während der zweiwöchigen Auseinandersetzungen im Herbst 1993 tatsächlich sinnlos? Die Freiwilligen, die das bescheidene Denkmal in der Druschinewska-Straße bis heute pflegen, sind offensichtlich anderer Meinung.