Zuvor hatte es große Zweifel daran gegeben, ob Sunak die erforderliche Mehrheit hinter sich bringen kann. Sowohl der rechte als auch der moderate Flügel seiner Partei hatten große Vorbehalte gegen das Gesetzesvorhaben. Die Regierung konnte jedoch in letzter Minute erzkonservative Abgeordnete durch die Aussicht auf Zugeständnisse davon überzeugen, zumindest nicht gegen den Entwurf zu stimmen.
Für den Gesetzentwurf stimmten schließlich 313 Abgeordnete, dagegen 269. Es wäre sonst Berichten zufolge das erste Mal seit 1986 gewesen, dass ein Gesetzentwurf bereits in zweiter Lesung scheitert - Sunak hätte womöglich vor dem politischen Aus gestanden. Mit der gewonnenen Abstimmung dürfte der Streit aber nicht beigelegt sein. Der Premier hat sich nur Zeit erkauft. Knapp 40 Abgeordnete seiner eigenen Partei dürften sich Medienberichten zufolge enthalten haben. Sollten sich diese gegen ihn wenden, würde er voraussichtlich keine Mehrheit erreichen.
Im Zentrum des Streits steht ein Asylpakt mit Ruanda. Um Migranten abzuschrecken, will London irregulär eingereiste Ankömmlinge künftig ohne Prüfung ihres Asylantrags und ungeachtet ihrer Herkunft in das ostafrikanische Land schicken. Sie sollen stattdessen dort um Schutz ersuchen - eine Rückkehr nach Großbritannien ist nicht vorgesehen. Der britische Supreme Court hatte jedoch Bedenken wegen des ruandischen Asylverfahrens geltend gemacht und den Plan Mitte November für rechtswidrig erklärt.
Um diese Hürde auszuräumen, will die Regierung in London nun Ruanda per Gesetz zum sicheren Drittland erklären und gleichzeitig den Rechtsweg in Großbritannien unter Berufung auf Menschenrechte ausschließen.
"Das britische Volk sollte entscheiden, wer in dieses Land kommen darf - nicht kriminelle Banden oder ausländische Gerichte. Das ist es, was dieser Gesetzentwurf liefert", schrieb Sunak nach der Abstimmung auf X (vormals Twitter). Er fügte hinzu: "Wir werden ihn nun zum Gesetz machen, damit wir die Flüge nach Ruanda starten und die Boote stoppen können."
Kritiker, auch aus seiner eigenen Partei, warfen Sunak vor, mit dem Vorhaben Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit außer Kraft zu setzen. Anderen ging der Vorstoß nicht weit genug. Sie forderten, auch den Gang vor internationale Gerichte per Gesetz auszuschließen. Mehrere Gruppen innerhalb der Tory-Fraktion aus dem rechten Flügel kündigten kurz vor der Abstimmung an, sich zu enthalten. Sie drohten jedoch damit, den Gesetzentwurf in dritter Lesung im neuen Jahr scheitern zu lassen, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Die Auseinandersetzungen erinnerten an die chaotische Brexit-Zeit, als die damalige Premierministerin Theresa May mehrfach mit ihrem Brexit-Deal im Unterhaus scheiterte.
Sunak, dessen Tory-Partei in Umfragen weit hinter der oppositionellen Labour-Partei liegt, hat es zum zentralen Anliegen gemacht, die irreguläre Einreise von Migranten in kleinen Booten über den Ärmelkanal zu beenden. Allein 2022 gelangten etwa 45 000 Menschen auf diesem Weg nach Großbritannien. In diesem Jahr liegt die Zahl bislang um ein Drittel niedriger als im Vorjahr. Trotzdem gilt das Versprechen nicht als eingelöst.
Für den britischen Premier geht es bereits um Wahlkampf: Bis Januar 2025 muss ein neues Parlament gewählt werden, Kommentatoren rechnen mit einer Abstimmung spätestens im Herbst 2024. Im harten Vorgehen gegen irreguläre Einwanderer sehen die Tories eine Chance, Brexit-Unterstützer aus der Arbeiterschicht bei der Stange zu halten.
Experten wie der Politologe Matthew Flinders von der Universität Sheffield sprechen von Symbolpolitik bei hohen Kosten. Bisher sind bereits 240 Millionen Pfund an Ruanda geflossen, weitere 50 Millionen sollen im kommenden Jahr gezahlt werden - bislang konnte aber kein einziger Migrant dorthin abgegeben werden.
Der Menschenrechtsausschuss des Parlaments warnte, das Gesetz verstoße gegen internationales Recht und könne zu einem beispiellosen Verfassungskonflikt zwischen Ministern und britischen Gerichten führen. Hardliner fordern sogar den Ausstieg aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, damit Betroffene sich auch nicht mehr an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden können. Das lehnt Sunak bisher ab.
Ändert der Premier aber nun den Kurs, dürfte wiederum der moderate Teil der Fraktion, ebenfalls etwa 100 Abgeordnete stark, rebellieren. Diese Tories fürchten um die Reputation des Landes, wenn Großbritannien sich über internationale Menschenrechte hinwegsetzt. So steckt der 43-Jährige zwischen den Fronten. "Der Premierminister hat keine Karten mehr auf der Hand", sagte Politologe Flinders.
Auf den Tag genau vier Jahre nach ihrem fulminanten Wahlsieg 2019 haben die Konservativen nun eine schwere Pleite erst einmal vermieden. Doch es dürfte ungemütlich bleiben. Denn schon fordern die ersten, dass der Sieger von damals die Partei erneut übernehmen möge, um ein Wahldebakel zu verhindern. Sein Name: Boris Johnson.