Bei einem Auftritt in Marseille warnte der Papst am Wochenende vor einem "moralischen Schiffbruch" der modernen europäischen Gesellschaften. In einer Rede vor mehr als 50.000 Zuhörerinnen und Zuhörern forderte Franziskus, auf die Migrationskrise nicht mit weniger, sondern mit mehr Menschlichkeit, Solidarität und Hilfsbereitschaft zu reagieren: "Diejenigen, die ihr Leben auf dem Meer riskieren, sind keine Invasoren, sie suchen nur Aufnahme."
"Nie zuvor", urteilt der deutsche Kirchenkenner Ludwig Ring-Eifel, "hat sich ein Papst so grundsätzlich über Migration und Integration geäußert." Das Migrationsphänomen, sagte der Papst, sei "nicht so sehr eine momentane Notlage, die immer gerne für panikmachende Propaganda herhalten muss, sondern eine Gegebenheit unserer Zeit, ein Prozess, der drei Kontinente rund um das Mittelmeer betrifft und der mit kluger Weitsicht gestaltet werden muss". Das Mittelmeer dürfe nicht zu einem Friedhof werden, auf dem die Menschenwürde beerdigt wird.
Das Publikum in Marseilles Velodrome-Stadium applaudierte. Im Stadion waren vor allem Gläubige, die Stimmung war multikulturell. Zuvor waren Fürbitten nicht nur auf Französisch und Spanisch, sondern auch auf Türkisch und Arabisch verlesen worden. Im Internet jedoch hob wenig später ein Shitstorm an. Kübelweise wird inzwischen in rechtsgerichteten Foren über den 86 Jahre alten Papst Hohn und Spott ausgegossen: "Der alte Idiot", heißt es dort, habe nun endgültig bewiesen, dass er nichts mehr mitbekomme. Französische Blogger forderten, der Papst solle in Marseille doch bitte auch den Bahnhof Saint-Charles besuchen: Dort waren am 1. Oktober 2017 zwei junge Frauen von einem illegal eingereisten Tunesier mit einem Messer erstochen worden.
Die Antipapstwelle blieb nicht auf Europa begrenzt. Rund um die Welt, nicht zuletzt in den USA, schießen mittlerweile rechte Vatikan-Gegner aus allen Rohren. Einige unterstellen Franziskus Demenz, andere sprechen von Heuchelei. Der texanische Rechtsextremist Nate Fischer rechnet vor, der Vatikan könne theoretisch 30.000 Flüchtlinge aufnehmen, tue es aber nicht. Der Influencer End Wokeness, mit 1,6 Millionen Followern auf X (vormals Twitter) ätzt, der Vatikan lasse auf dem eigenen Territorium nur "ein paar hundert Einwohner" zu – und die seien "zu 100 Prozent römisch-katholisch". Ähnlich sieht es "Radio Genoa", eine ausländerfeindliche Plattform aus Italien: Der Papst predige Offenheit und verschanze sich selbst "hinter 17 Meter hohen Mauern".
Das wahre Bild ist etwas komplizierter. In Rom weiß man, dass Papst Franziskus zeitweise sehr wohl syrischen Familien Unterschlupf in Vatikan-Apartments bot. Quer durch Italien förderte er Aufnahmebereitschaft der Gemeinden. Unvergessen ist auch, wie er im Jahr 2016, auf dem Höhepunkt der damaligen Flüchtlingswelle, zur Verwunderung des Rests der Welt, jungen Asylbewerbern die Füße wusch.
Die weltfremd wirkende Sturheit des Papstes beim Thema Flüchtlinge ist keine persönliche Schrulligkeit des 86‑Jährigen. Sie wurzelt tief im Religiösen. Das Kirchenoberhaupt sah und sieht an dieser Stelle eine Kernbotschaft des Christentums berührt: Nächstenliebe. "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan": So zitiert die Bibel Jesus Christus. Es sind Worte, die seit zwei Jahrtausenden nachhallen und immer wieder Anschub waren für katholische Hilfsprojekte in aller Welt, von Caritas bis Misereor. Im italienischen Ventimiglia am Mittelmeer, nahe der Grenze zu Frankreich, helfen derzeit katholische Nonnen jeden Tag Gestrandeten durch Essen und Kleidung beim Überleben und fragen nicht nach dem Woher und Wohin.
Der Papst sieht an dieser Stelle ein selbstverständliches Grundprinzip seiner Religionsgemeinschaft und keine Verhandlungsmasse, auch nicht in schwierigen Zeiten. In seiner "Botschaft zum Welttag des Migranten und Flüchtlings" vom 24. September 2023 wurde Franziskus soeben regelrecht doktrinär und verlangte, eher die bisher gängigen Praktiken des Wirtschaftens aufzugeben als den Grundsatz der Nächstenliebe.
"Migranten", schreibt der Papst, "fliehen aus Armut, aus Angst, aus Verzweiflung. Um diese Ursachen zu beseitigen und damit der erzwungenen Migration ein Ende zu setzen, brauchen wir das gemeinsame Engagement aller, eines jeden, entsprechend seiner Verantwortung. Ein Engagement, das damit beginnt, dass wir uns fragen, was wir tun können, aber auch, was wir nicht mehr tun dürfen. Wir müssen uns bemühen, das Wettrüsten, den wirtschaftlichen Kolonialismus, den Raub der Ressourcen anderer und die Zerstörung unseres gemeinsamen Hauses zu beenden."
Die Gleichgültigkeit der modernen europäischen Gesellschaften den Flüchtlingen gegenüber, schimpfte der Papst dieser Tage, laufe darauf hinaus, "andere Menschen zum Tode zu verurteilen". Bemühungen von Mittelmeer-Anrainerstaaten, das Auslaufen von Rettungsbooten zu unterbinden, geißelte er als "Gesten des Hasses". Für deutsche Ohren klingt der Papst damit über weite Passagen hinweg wie manche Grünen, allerdings vom Fundi-Flügel vergangener Jahrzehnte. Von den heute dominierenden Realos werden auf deutschen Talkshowsofas so radikale Töne, wie Franziskus sie wagt, kaum noch angeschlagen.
Der aus Argentinien stammende Papst – bürgerlicher Name: Jorge Mario Bergoglio – ist selbst Sohn italienischer Auswanderer. Zumindest am Rande spielt wohl auch dieser Aspekt eine Rolle. Der Vater von Franziskus fuhr in den Zwanzigerjahren übers Meer, um jenseits des Atlantiks eine bessere Zukunft zu suchen.
Vielleicht wäre José Mario Bergoglio im Oktober 1927 ertrunken, wenn er wie geplant an Bord des Dampfschiffs "Principessa Mafalda" in die neue Welt aufgebrochen wäre. Das Schiff ging vor der Küste Brasiliens unter und riss 314 Menschen in den Tod. Auch wenn die Mehrzahl der Passagiere gerettet werden konnte, war dies die schlimmste Katastrophe der italienischen Schifffahrt.
Der Vater von Franziskus hatte die Reise glücklicherweise verpasst, da dringend erforderliche Dokumente nicht rechtzeitig eingetroffen waren. Erst zwei Jahre nach dem Untergang der "Principessa Mafalda", der "Italienischen Titanic", wie man sie nannte, wagte Bergoglio die Reise nach Argentinien. Sieben Jahre später, am 17. Dezember 1936, wurde dann in Buenos Aires das italienischstämmige Migrantenkind geboren, das heute Papst ist.
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