Man dürfe einen Posten nicht nur besetzen. "Ihr müsst ihn auch ausfüllen", fordert Reckmann. Die SPD-Basis könne Debatte nicht allein bestehen. "Gebt ihnen Werkzeug und Sprache in die Hand für die kommenden Auseinandersetzungen", sagt Reckmann. Posten ausfüllen, Werkzeug und Sprache – gute Idee vermutlich. Die SPD regiert, aber ihre Umfragewerte sacken von einem historischen Tief aufs nächste, genauso wie die von Bundeskanzler Olaf Scholz. Und insbesondere Scholz steht, auch in seiner Partei, in der Kritik dafür, dass er seine Politik nicht ausreichend erklärt.
Aber Scholz steht nicht zur Wahl auf diesem Parteitag, die SPD hat ihn 2019 ausdrücklich nicht an ihre Spitze gewählt, danach allerdings zum Kanzlerkandidaten. Am Samstag wird Scholz eine Rede halten. Fürs erste sitzt er in der ersten Delegiertenreihe und lächelt vergnügt, sobald er auf der Bühne lobend erwähnt wird.
Angesprochen fühlen müssen sich von Reckmann daher zunächst einmal die Parteichefs Saskia Esken und Lars Klingbeil, und auch Generalsekretär Kevin Kühnert. Vier Jahre ist Esken im Amt, sie hat sich einst durchgesetzt gegen Scholz, Klingbeil hat vor zwei Jahren mit übernommen.
Eine Parteilinke und ein Mitglied des konservativen Seeheimer Kreises. Eine 62-Jährige und ein 45-Jähriger. Eine bis zum Aufstieg an die Spitze eher unbekannte Bundestagsabgeordnete mit dem Spezialgebiet und ein früherer Mitarbeiter von Gerhard Schröder und SPD-Generalsekretär. Sie setzten auf Teamarbeit. Zumindest die SPD-internen Kämpfe, die die Partei über Jahre gespalten haben, sind weitgehend verstummt.
Aber da sind noch die Umfragewerte. Die Parteichefs und ihr Generalsekretär sind zuständig dafür, die nächsten Bundestagswahlen 2025 zu organisieren. Und 2024 stehen Europawahlen an, und die Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg.
Sie haben die SPD zunächst mal optisch rot gefärbt, die Traditionsfarbe der Partei: Das schüchterne Blau der Gerhard-Schröder-SPD und der Groko-Jahre, auf dem Rot eine Nebenrolle spielte, und das vorsichtige Weiß von 2019 wurde getauscht gegen eine knallrote Bühnenrückwand.
Fehlen noch die Worte: SPD-Chefin Saskia Esken setzt auf die Vokabel Zuversicht. "Die SPD hat zu sich gefunden. Sie weiß wieder wofür sie steht", sagt sie. Im Saal bleibt es ruhig. Munterer wird es erst, als Esken, der Union im Allgemeinen und CDU-Chef Friedrich Merz im Besonderen "politischen Vandalismus" vorwirft "CDU und CSU hetzen im Chor mit der AfD gegen die Ampel", sagt sie.
Die Union sei keine seriöse Volkspartei mehr, sondern "die populistischste Opposition aller Zeiten". Zum Schluss hat sich Esken heiser geredet, der Schlussapplaus ist höflich. Esken gilt vor allem als geschickte Netzwerkerin – und die Parteilinke hat in der Koalition mehr zu schlucken als die Seeheimer.
Klingbeil weckt den Parteitag dann auf. Er hat keine anderen Themen als Esken, aber die Delegierten treiben von Applaus zu Applaus. "Die SPD ist immer wieder aufgestanden", ruft er gleich zwei Mal. Er beschreibt die SPD als Brückenbauer und beschwört die Gegner herauf: Neoliberale, die "die Axt an den Sozialstaat legen". Die Union, die sich für Arbeitnehmer immer nur dann interessiere, "wenn sie sie gegen die Ärmste und Armen instrumentalisieren" könnten. Und die AfD, die nichts so sehr hasse "wie den Rechtsstaat und unsere Demokratie". "Wir sind das Bollwerk gegen die AfD", ruft Klingbeil.
Zumindest indirekt kann sich auch FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner kritisiert fühlen, als Klingbeil zur Finanzpolitik kommt. Seit Wochen ringt die Ampel-Koalition um den Umgang mit dem Haushalts-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Eine Einigung über den Haushalt 2024 ist noch nicht gelungen. Die SPD-Forderung, die Ukraine-Unterstützung als Reaktion auf eine Notlage aus dem regulären Etat auszuklammern und damit von der Schuldenbremse auszunehmen, hat Lindner bisher zurückgewiesen. "Der Weg aus der Notlage führt darüber, dass wir die Realität anerkennen."
Zum Schluss gibt es stehende Ovationen für Klingbeil. Der Kanzler wird am Samstag wohl auch daran gemessen werden. Die Delegierten geben Klingbeil dann aber 0,7 Prozentpunkte weniger als 2021. Er kommt auf 85,6 Prozent der Stimmen. Esken landet bei 82,6 Prozent – 5,9 Prozentpunkte mehr als beim letzten Mal. Die Frau und der Mann, die Linke und der Konservative treffen sich in der Mitte, der Brückenbau scheint zumindest hier gelungen. Auf der Bühne formen sie mit ihren Händen gemeinsam ein Herz.