In der Veranstaltung sah man einen russischen Präsidenten, der sehr viel souveräner auftrat, als noch bei seiner "Rede zur Lage der Nation" im Februar dieses Jahres, wenige Tage vor dem ersten Jahrestag des russischen Einmarsches in die Ukraine. Damals musste Russland militärische Rückschläge hinnehmen, doch inzwischen scheint Moskau im Kampfgeschehen in der Ukraine wieder Licht zu sehen, und das merkte man Putin bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in dem Format seit gut zwei Jahren deutlich an.
Die wichtigsten Themen, nämlich den Zustand der russischen Wirtschaft im Nachgang zu den westlichen Sanktionen und die militärische Lage in der Ukraine, räumte Putin gleich am Anfang ab.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) werde in diesem Jahr um 3,5 Prozent wachsen, prognostizierte der Kremlchef und sagte damit ein überaus optimistisches Wirtschaftswachstum für die russische Wirtschaft voraus, das deutlich über der Schätzung des IWF von einem Plus von 2,1 Prozent liegt. Auch das ist ein hoher Wert – etwa im Vergleich zu dem Minus von circa 0,5 Prozent, das für das deutsche BIP im laufenden Jahr erwartet wird.
Putin räumte ein, dass die Inflation mit 7,5 bis 8 Prozent über dem selbst gesteckten Ziel liege Doch der Präsident gab sich optimistisch, dass die Preissteigerungen im nächsten Jahr geringer ausfallen würden.
Und das sei ja alles gar nicht so schlimm, denn die Reallöhne seien stärker gestiegen als die Inflation. Die russische Volkswirtschaft habe eine unerwartet hohe Widerstandskraft bewiesen, die es dem Land erlaube, trotz des westlichen Drucks auf Wachstumskurs zu bleiben, erklärte der 71-Jährige.
Putin erwähnte nicht, dass das Plus der wirtschaftlichen Kennzahlen nach Einschätzung westlicher Experten besonders auf der Rüstungsproduktion basiert. Vielmehr betonte er, dass Fachleute dem Land einen natürlichen und gesunden Zuwachs bescheinigten.
De facto ist es allerdings so, dass die statistischen Daten in Russland aufgrund häufig wechselnder Berechnungsmethoden nur schwer überprüfbar sind. In die Kalkulation der angeblich gestiegenen Einkommen fließen etwa auch die hohen Soldzahlungen für die Soldaten ein, die in der Ukraine an der Front kämpfen. Deren Einkommen liegen um ein das Zwei- bis Dreifache über den durchschnittlichen Gehältern in Russland.
Auf die Frage einer Journalistin, wie es um das Kampfgeschehen in der Ukraine stehe, und wann es Frieden geben werde, antwortete Putin ruhig und sachlich. Bedingung für einen Frieden sei der neutrale Status der Ukraine – also der Verzicht auf die Nato-Mitgliedschaft – und die Entnazifizierung und Entmilitarisierung des Nachbarlandes, sagte er. "Der Frieden kommt dann, wenn wir unsere Ziele erreicht haben", sagte der russische Präsident.
Was die Entnazifizierung angehe, sei die Ukraine nach wie vor ein Problemfall, kritisierte Putin: "Wie kann es sein, dass ein Nazi wie Stepan Bandera immer noch ein Nationalheld ist?", fragte der russische Staatschef. Der Terrorist und Rechtsextremist Bandera kämpfte im Zweiten Weltkrieg aufseiten der Nazis und wird in der Ukraine immer noch verehrt. Als weiteres Beispiel für einen Faschismus, der in der Ukraine und im Westen nach wie vor nicht adressiert werde, nannte Putin den Skandal um Jaroslaw Hunka. Der 98-jährige SS-Veteran war im September im kanadischen Parlament im Beisein des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj mit stehenden Ovationen bedacht worden.
In Bezug auf den Krieg in der Ukraine äußerte sich Putin optimistisch. Es sei keine neue Teilmobilmachung nötig. Die Zahl der Freiwilligen werde bis Jahresende bei einer halben Million Vertragssoldaten liegen. "Gestern kamen 1500 hinzu", sagte er.
Die umstrittene Teilmobilmachung im vergangenen Jahr bezeichnete Putin als großen Erfolg: "Manche haben die eingezogenen 300.000 Soldaten bemitleidet, dabei haben die hervorragende Ergebnisse erzielt. Sie kämpfen ausgezeichnet", sagte der Kremlchef.
Nach Angaben Putins liegt die Gesamtzahl der russischen Soldaten im Kriegsgebiet bei 617.000. Zur Zahl der Gefallenen sagte er nichts.
Die Regie der Veranstaltung sah vor, dass Putin zwischen diesen weltpolitischen Fragen, sich auch immer wieder innerrussischen Themen zuwenden sollte. So fragte eine Frau ihren Präsidenten schon früh in der vierstündigen Fragerunde, wie es um den zurückgehenden Pegelstand der Wolga in Südrussland stehe, und der Präsident, der offensichtlich auf die Frage vorbereitet war, versicherte ihr, dass der Kreml dafür sorgen werde, den Wasserstand wieder anzuheben.
Hoffnung dürfen sich nach dieser Pressekonferenz/TV-Fragestunde auch die zwei US-Bürger Evan Gershkovich und Paul Whelan machen, die in russischen Gefängnissen wegen des Vorwurfs der Spionage einsitzen.
Denn Putin signalisierte seine Bereitschaft zu weiteren Verhandlungen mit Washington über ihre Freilassung. "Wir wollen eine Einigung erzielen", sagte er. Es bestünden Kontakte mit der US-Seite. "Es läuft dazu ein Dialog. Er ist nicht einfach, aber insgesamt sprechen wir eine Sprache, die jeder versteht." Er hoffe, dass eine Entscheidung auf Grundlage humanitärer Erwägungen gefunden werden könne, sagte der russische Präsident.
Moskau verlangt von den USA im Gegenzug die Übergabe russischer Gefangener. Russland hat so in den USA verurteilte Schwerverbrecher immer wieder freibekommen. Die US-Regierung hatte Anfang Dezember mitgeteilt, dass sie Moskau ein neues Angebot zur Freilassung von Gershkovich und Whelan gemacht habe. Das Angebot sei aber abgelehnt worden. Details zu dem Angebot nannte Washington nicht.