Auf der Krim herrscht unter den russischen Besatzern eine Nervosität wie noch nie. Immer wieder gerieten in jüngster Zeit Ziele auf der Halbinsel unter ukrainischen Beschuss. Mal gingen Militärlager in Flammen auf, mal Flugabwehrstellungen. Am Freitag folgte der bisherige Höhepunkt der Angriffswelle aus Kiew: Eine Rakete bohrte sich in die Kommandozentrale der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Noch am nächsten Tag kündete die rauchende Ruine, sogar von Satelliten aus sichtbar, von dem ebenso präzisen wie harten Schlag gegen Russland.
In den Blick gerät damit einer von fünf Gründen, die im Krieg mit Russland für wachsende Zuversicht auf der Seite der Ukraine sprechen: Es ist Kiew gelungen, die aus Sicht Moskaus sicher geglaubte Krim unsicher zu machen. Der russische Gouverneur Raswoschajew beschwichtigte zwar: Außerhalb der Kommandozentrale sei niemand verletzt worden. Unerwähnt aber ließ der Russe, wie es innerhalb des Gebäudes aussah. Das Regime des Kriegsherrn Wladimir Putin macht daraus ein Staatsgeheimnis. Schmallippig ließ der Kreml mitteilen, nach der ukrainischen Attacke werde "ein Soldat vermisst". Doch das dürfte gelogen sein.
Die Ukraine erklärte, man habe in Sewastopol einen "Spezialeinsatz" mit der Bezeichnung Crab Trap (Krabbenfalle) durchgezogen – zu einem Zeitpunkt, an dem sich gerade "hochrangige Mitglieder der russischen Marine" in dem Gebäude versammelt hätten. In unbestätigten Meldungen in sozialen Netzwerken hieß es, neun Menschen, darunter mehrere hohe Offiziere, seien getötet und 16 weitere verletzt worden.
Die Attacke in Sewastopol ist eine Demütigung Russlands, und zwar gleich eine doppelte: Die Ukraine hat vorgeführt, dass sie auf der Krim erstens waffentechnisch durchzudringen vermag und zweitens auch über exzellente Geheimdiensterkenntnisse verfügt. Beide Faktoren könnten dabei helfen, die Krim früher oder später komplett von russischen Nachschubwegen abzuschneiden. Auf diese Weise könnten sich eines Tages nicht nur einige hohe Offiziere, sondern alle auf der Krim stationierten russischen Soldaten in einer "Krabenfalle" wiederfinden.
"Sind wir nicht mehr in der Lage, eine so wichtige Einrichtung in Sewastopol zu schützen?", schimpfte am Wochenende ein wütender russischer Telegram-Blogger. Die ernüchternde Antwort lautet: nein. Die Ukraine hat in den Wochen zuvor – scheibchenweise zwar, aber systematisch – die russische Luftverteidigung auf der Krim lahmgelegt. Von "Slicing" sprechen Militärfachleute: Stück für Stück wurden wichtige Elemente weggesprengt. Mal traf es fest stehende Radaranlagen, mal fahrbare Flugabwehrbatterien.
Seit Monaten konzentriert sich Kiew vor allem auf die russischen S‑400-Luftabwehrsysteme. Wo diese modernen Anlagen den Himmel kontrollieren, trauen sich ukrainische Piloten nicht in die Luft; auch ist in diesen Regionen die Chance gering, Raketen ins Ziel zu steuern. Mittlerweile aber hat die Ukraine nach Informationen von "Newsweek" einen beachtlichen Teil der S‑400 "zerstückelt", wie das US-Magazin am 20. September meldete. Die Systeme sind nicht auf die Schnelle ersetzbar, ein einziges kostet um die 200 Millionen Dollar.
Während die russische Luftabwehr immer schlechter funktioniert, bekommt die Ukraine immer bessere Angriffswaffen in die Hand. Beim Schlag gegen die russische Marinezentrale in Sewastopol kam ein britisch-französischer Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow zum Einsatz, in der Luft ausgeklinkt aus einem ukrainischen Kampfjet. Das System Storm Shadow bietet neben hoher Präzision eine besondere Durchschlagskraft durch einen Doppelsprengkopf: Der erste bahnt dem Geschoss den Weg durchs Dach, bevor ein weiterer das Gebäude mit großer Wucht von innen sprengt.
Weil das "Slicing" mittlerweile nachweisbar funktioniert, tritt Kiew gegenüber Moskau inzwischen deutlich selbstbewusster auf. So ging an diesem Wochenende Oleksij Danilow, Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats, zu geradzu verblüffenden Drohgebärden über: Für Russland, warnte Danilow, sei es das Beste, wenn es jetzt im Zuge einer "freiwilligen Selbstneutralisierung" die Schiffe der Schwarzmeerflotte selbst versenke. Anderenfalls werde die russische Schwarzmeerflotte in nächster Zeit durch ukrainische Attacken nach und nach "wie eine Salami in Stücke geschnitten".
Beobachtenden im Westen erscheinen Psychoattacken wie diese als zweifelhafte Rempelei. Bei Truppen, die in einen Krieg verwickelt sind, können derartige Trommeleien aber durchaus Wirkung entfalten – besonders im Kreise jener Soldaten, die bereits an ihrer eigenen Führung zweifeln.
Auf russischer Seite gibt es davon viele. Vor allem der Aufstand und das Verschwinden des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin sind unter Russlands Uniformierten noch nicht verdaut. Das britische Institute for the Study of War (ISW) meldete im jüngsten Lagebericht Unruhe: Der russische Geheimdienst FSB vermute in den Reihen der Nationalgarde (Rosgwardija) hochrangige Helfer von Prigoschin. Sie sollen unter anderem der Lagerung von Containern mit Wagner-Militärausrüstung auf dem Gelände der Nationalgarde zugestimmt haben. Ermittlungen laufen, das System vibriert. Und insgeheim halten unzählige Russen in Uniform an ihrer Sympathie für den Rebellen Prigoschin fest.
Die USA werden, anders als anfangs gemeldet wurde, der Ukraine nun doch die von Präsident Wolodymyr Selenskyj erbetenen hocheffektiven Kurzstreckenraketen vom Typ ATACMS (Army Tactical Missile System) liefern. Für Kiew ist dies politisch ein bemerkenswerter Erfolg.
US-Präsident Joe Biden schob die ATACMS-Entscheidung im Sommer monatelang vor sich her – offenbar in der Hoffnung, durch diplomatische "Back-Channel"-Kontakte zu Moskau vielleicht noch eine wie auch immer geartete Alternative zur Fortsetzung des Krieges zu finden. Dies führte zeitweise hinter den Kulissen zu erheblichen Spannungen zwischen Kiew und Washington. Für eine Klärung sorgte inzwischen aber Putin – indem er, statt über einen Rückzug zu verhandeln, seine Attacken auf zivile Ziele in der Ukraine noch verstärkte.
Für begrenzte Zeit nahm Biden eine Phase der Uneindeutigkeit in Kauf. Der US-Präsident will aber nicht in einer dauerhaften Position der Schwäche ins Wahlkampfjahr 2024 gehen. Stattdessen bewilligte er jetzt eine Nachrüstung der Ukraine mit Waffen, die schon bald die russischen Invasoren tatsächlich in die Defensive bringen dürften. Der Beginn der Wahlkampfzeit in den USA, oft als eine kommende Belastung der Ukraine gedeutet, erweist sich damit – zunächst jedenfalls – als Vorteil für Kiew. Nicht nur Selenskyj, auch Biden hat ein innenpolitisches Interesse daran, die russischen Besatzer nicht irgendwann, sondern schon bald aus ihren Stellungen zu vertreiben.
Militärplaner in der Ukraine und in den USA sind sich laut "Washington Post" bereits einig, welche ATACMS-Variante zum Einsatz kommen soll: Gedacht ist an Raketen mit dem 227 Kilogramm schweren WDU-18-Sprengkopf, der eine weitreichende Splitterwirkung hat. Den weltweiten Initiativen zur Ächtung von Streubomben aller Art sind weder Washington noch Moskau je beigetreten. Kiew argumentiert, man nehme den Einsatz ja auf eigenem Territorium in Kauf, damit verändere sich die ethische Betrachtung. Im Mittelpunkt stehe der Wunsch, einen Angreifer zu vertreiben.
An der ukrainischen Ostfront treffen modernste Waffen auf Technik aus dem Ersten Weltkrieg. Besonders deutlich zeigt sich hier, wie verheerend der Abnutzungskrieg zwischen Besatzern und den Verteidigern ist. Ein Besuch in den Schützengräben.
Nach Angaben des ATACMS-Herstellers Lockheed Martin hat sich die Splittertechnologie bereits im Golfkrieg 1991 bewährt (Operation Desert Storm). Damals sollen 32 ATACMS-Raketen abgeschossen worden sein, um die Truppen von Saddam Hussein zu bekämpfen, die in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nach Kuwait einmarschiert waren. Der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen hatte damals – mit der Stimme Moskaus – den Gegenangriff einer von den USA geführten internationalen Koalition gebilligt.
Laut Lockheed Martin können Heereseinheiten in einem Stellungskrieg mit ATACMS weiter schießen als jede am Boden befindliche Kanone, bis zu 300 Kilometer. Zugleich können sie mit jedem Splittersprengkopf auf der Seite des Feindes tödliche Flächenwirkungen in einem Radius von mehreren Zehntausend Quadratmetern entfalten. Da sich die Raketen mit dreifacher Schallgeschwindigkeit nähern, sind sie schwer zu stoppen.
Für die russischen Soldaten in der Ukraine ergibt sich damit eine prekäre neue Lage. Die Sommermonate hatten sie dazu genutzt, ihre Schützengräben in der Ukraine auszubauen. Hinter Sandsackbergen, massenhaften Panzersperren und den wohl breitesten Minenfeldern, die je in Europa verlegt wurden, fühlten sie sich bislang einigermaßen sicher. Doch ein Angriff mit ATACSM brächte ihnen den schnellen Tod. Die neue Waffe lässt zweifellos das Eskalationsrisiko steigen. Zugleich aber könnten damit auch die Chancen wachsen, den Konflikt bald zu Ende zu bringen.
Bei der Operation Desert Storm war es den USA gelungen, den Widerstand der Saddam-Truppen überraschend schnell auch durch "Psy-Ops" zu brechen, Operationen der psychologischen Kriegsführung. So wurden den irakischen Soldaten auf Flugblättern und durch Funksprüche Fristen gesetzt, innerhalb derer sie unbeschadet ihre Stellungen verlassen dürfen, wenn sie sich ergeben. Ähnliche Szenarien schweben derzeit auch westlichen Militärplanern mit Blick auf die Ukraine vor – wobei freilich Putins Hartnäckigkeit als Hindernis gilt. In Nato-Kreisen heißt es seit Langem, man müsse alles versuchen, um zwischen die russischen Truppen in der Ukraine und die Führung in Moskau einen Keil zu treiben.
dp/fa