"Jetzt beginnt die Belagerung von Gaza-Stadt, um die Hamas-Zentrale zu zerstören, die im Untergrund der Stadt vermutet wird", erklärt Steven Höfner, der das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung für die palästinensischen Gebiete in Ramallah leitet. Die militärische Führung der Terrororganisation halte sich wahrscheinlich in den weit verzweigten Tunnelsystemen auf. "Das ist aktuell das Hauptziel der Streitkräfte", sagt Höfner. Die Armee verfolgt eine Strategie, die die eigenen Kräfte gezielt einsetzt: "Israel bündelt Kapazitäten, um nicht im Norden und Süden von Gaza gleichzeitig vorzugehen. Denn im Norden muss die Armee jetzt in die dicht besiedelten Gebiete vorrücken. Es wird einen langwierigeren Häuserkampf über Wochen oder gar Monate geben", vermutet Höfner.
Ob die Hamas dabei komplett ausgeschaltet werden könne, sei allerdings nicht sicher. "Möglicherweise reichen die Tunnelsysteme bis in den Süden, dann könnten die Terroristen fliehen. Israel wird daher auf jeden Fall versuchen, die Tunnel zu zerstören", erklärt der Nahost-Experte. Von einer Falle, bei der Hamas-Kämpfer aus dem Rücken der israelischen Armee angreifen, geht er nicht aus: "Die Streitkräfte sind sehr aufmerksam. Eigentlich gibt es aktuell keinen Ort, an dem die Armee die Hamas im Rücken haben könnte. Einzelne Hinterhalte schließt das aber nicht aus."
Weil israelische Soldatinnen und Soldaten die Angriffe im Norden Gazas intensivieren, wird die Lage für Zivilistinnen und Zivilisten immer gefährlicher. "Es zeigt sich nun, warum Israel die Zivilbevölkerung in Gaza-Stadt zuletzt immer wieder aufgerufen hat, in den Süden zu flüchten", sagt Höfner. Einen solchen Aufruf an die Zivilistinnen und Zivilisten gab es am Montag erneut. In einem vierstündigen Zeitfenster gäbe es einen Durchgang Richtung Süden, schrieb ein Militärsprecher Israels auf der Plattform X, vormals Twitter. Bereits in der vergangenen Woche hieß es aus dem Militär, der Bereich im Süden sei zwar keine "sichere Zone", aber sichererer "als jeder andere Ort in Gaza".
Israel, das von Hilfsorganisationen und westlichen Partnern immer wieder zu Rücksicht auf die Zivilbevölkerung aufgerufen wird, will auch nach Ablauf des neuesten Zeitfensters die Flucht nach Süden ermöglichen. "Es ist aber schwer vorstellbar, wie das umgesetzt werden kann", sagt Höfner. "Denn an der neuen Grenzlinie zwischen Nord- und Südgaza finden Gefechte statt, durch die Zivilistinnen und Zivilisten hindurch müssten. Die Flüchtenden dürften außerdem wenig Zutrauen in die israelische Armee haben und nicht einfach auf deren Streitkräfte zulaufen."
Wenn im Norden Gazas die Hamas ausgeschaltet sind, wird Israel laut Nahost-Experte Höfner den Süden des Gebiets in den Blick nehmen. "Dort muss das Militär anders vorgehen. Die Operation wird im Süden viel schwieriger, wenn man Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen will", sagt er mit Blick unter anderem auf die Flüchtlingslager.
"Die Teilung des Gazastreifens wird sich langfristig verfestigen", vermutet Höfner. Im Süden würden möglicherweise Vereinte Nationen und Hilfsorganisationen die Strukturen aufrechterhalten. Im Norden hingegen werde Israel das Gebiet demilitarisieren oder besetzen. "Die jetzige Teilung wird das Gebiet für Jahre prägen. Der Gazastreifen ist schon heute nicht mehr das, was er vor dem 7. Oktober war."