Nach Angaben des ukrainischen Militärs mussten einige Einheiten ihre Feuerrate im Vergleich zum Sommer bereits um 90 Prozent reduzieren. Es fehlt an allem – und an vielen Stellen der Front wissen die Kommandeure nicht, wie lange sie ihre Stellungen noch halten können.
In EU- und Nato-Kreisen wächst angesichts dieser brisanten Entwicklung die Nervosität. Von offizieller Seite wird immer wieder betont, wie viel die westlichen Verbündeten doch geleistet haben. "Wir sind entschlossen, der Ukraine weiterhin jede erdenkliche Unterstützung zukommen zu lassen, solange dies nötig ist", bekräftigt die EU-Kommission. Doch hinter den Kulissen wird immer öfter eingeräumt, dass die bisherige Unterstützung nicht genug gewesen war.
Estlands Außenminister Margus Tsahkna fordert nun mehr Waffen und Munition für die Ukraine. "Wir müssen an den Sieg der Ukraine glauben, und es ist klar, dass sie nur dann Erfolg haben kann, wenn wir unsere kontinuierliche Unterstützung fortsetzen", sagt er. "Die jüngsten massiven Luftangriffe Russlands auf die Ukraine zeigen einmal mehr, wie wichtig es ist, dass wir im euro-atlantischen Raum zusammenhalten und uns gegen Russlands Brutalität wehren."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hofft, dass nun rasch neue Hilfspakete geschnürt werden. Noch im Januar werde es "eine Menge relevanter Mitteilungen" geben, zeigte er sich zuversichtlich. Deutschland hat jetzt erstmals ein Flugabwehrsystem vom Typ Skynex geliefert, sowie rund 10.000 Schuss Artilleriemunition. Diese reicht für etwa zwei Tage.
Im EU-Parlament wächst die Frustration darüber, dass alle Expertenwarnungen in den Wind geschlagen wurden. "Das Problem ist, dass es keine gemeinsame Definition von Sieg gibt", sagt der Vorsitzende der Ukraine-Delegation im Europaparlament, Witold Waszczykowski. "Für die Ukraine bedeutet Sieg die Niederlage Russlands und die Befreiung aller besetzten Gebiete, während viele westliche Staatschefs bereits die Abwehr russischer Angriffe als Sieg betrachten." Kurzum: Soll die Ukraine leben oder nur überleben dürfen?
Dass nun selbst das Überleben infrage steht, liegt auch an den weitgehend leeren eigenen Munitionsdepots der EU- und Nato-Staaten. Seit mehr als einem Jahr zeichnet sich ab, dass der munitionshungrige Krieg an den Reserven der westlichen Armeen zehrt. Dass die Produktionskapazitäten nicht massiv ausgebaut wurden, ist für US-General a. D. Hodges unerklärlich. "Deutschland kann Hunderttausende Autos pro Jahr produzieren, aber nicht genug Munition? Das ist lächerlich." Dasselbe gelte für Frankreich, Großbritannien, die USA und andere Staaten. "Es fehlt der politische Wille."
Waszczykowski, der bis 2018 polnischer Außenminister war, wirft einigen westlichen Staaten vor, ein falsches Spiel zu spielen. Sie würden den Krieg am liebsten einfrieren und wieder Geschäfte mit Russland machen. "Deshalb schränken sie die Waffenlieferungen ein", sagt er. "Diese Staaten haben mehr Interesse an Russland als an der Ukraine."
Derzeit kontrolliert die Ukraine mehr als 80 Prozent ihres Territoriums. Dass sie bei Munitionsmangel kapitulieren werden, glaubt Hodges nicht. "Sie kennen die Gräueltaten, die Russland in den besetzten Dörfern ihren Landsleuten antut", sagt er.
Aber das Ausmaß des Mordens und der Zerstörung sei das Ergebnis des Versagens des Westens, der der Ukraine nicht zum Sieg verhelfen wolle. Die Russen setzten darauf, dass der Westen müde werde und den Willen verliere, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. "Und wenn sie sehen, wie sich der US-Kongress streitet und der Kanzler seit Monaten die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern verweigert, dann wissen die Russen, dass ihre Strategie aufgeht."
Im EU-Parlament will man das mit allen Mitteln verhindern. "Wir sollten uns als EU mit allen 27 Mitgliedsstaaten jetzt erst einmal auf das Wesentliche konzentrieren: Die Ukraine braucht jetzt endlich hinreichend Waffen und Munition", sagt der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Parlament, Daniel Caspary. Und auch weitere Maßnahmen müsse die EU jetzt vorantreiben, fordert Waszczykowski. "Um den Krieg zu beenden, müssen wir schärfere Sanktionen gegen Russland verhängen. Den Russen sollte der Zugang zur westlichen Welt verwehrt werden." Touristen, Sportler, Prominente, Studenten und andere russische Staatsbürger will er nicht mehr auf europäischem Boden sehen. Sie sollen den Preis für die Kriegsführung der russischen Regierung zahlen.
An der Front in der Ukraine werden die Auswirkungen des Munitionsmangels nun immer deutlicher zu sehen sein. Ohne große Mengen an Artilleriemunition werde es kaum mehr möglich sein, Großangriffe wie zuletzt im Raum Awdijiwka zurückzuschlagen, sagt Hodges. "Es drohen einige Gebietsverluste, auf jeden Fall aber mehr ukrainische Opfer."
Die gravierenden Defizite bei den Produktionskapazitäten für Munition in den Nato-Staaten lassen auch Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit laut werden. "Das macht uns verwundbar für eine schreckliche Fehleinschätzung der Russen, dass sie ein Nato-Land angreifen könnten." Eine Sorge, die vor allem in den osteuropäischen Staaten wieder häufiger zu hören ist.
Unter Hochdruck stimmen sich derweil die Verbündeten bei informellen Gesprächen über neue Militärhilfen ab. Auch beim kurzfristig anberaumten Nato-Ukraine-Rat in der kommenden Woche stehen die Lage an der Front und die Unterstützung der Partner ebenso auf der Tagesordnung wie beim späteren Treffen der Nato-Armeechefs. Deutschland und die USA haben innerhalb der Nato genug Einfluss, um die entscheidenden Weichen zu stellen. Jetzt kommt es auf den politischen Willen an.