So schlimm wie zum Jahreswechsel 2021/22, als die Infektionszahlen in Deutschland die 100.000er-Marke überschritten, im Februar dann sogar die 200.000er-Marke, wird es wohl aber nicht werden. "Ich sehe, solange Omikron zirkuliert, keine große Gefahr, dass sich die Situation groß verändert oder dass es noch mal nötig wird, dass der Staat zum Beispiel irgendwelche Maßnahmen verhängt", machte Ciesek deutlich. Bis Ende August waren bundesweit knapp 4000 Corona-Fälle registriert worden, wie aus dem jüngsten Wochenbericht der Arbeitsgemeinschaft Influenza am RKI hervorgeht. Das ist ein mehr als doppelt so hohes Niveau wie rund einen Monat zuvor. Die Fallzahlen steigen nun seit etwa sechs Wochen an. "Insgesamt sind die Covid-19-Inzidenzwerte aber weiterhin sehr niedrig", heißt es im Bericht.
Dass die Infektionszahlen steigen, ist nach Einschätzung von Fachleuten unter anderem auf die Virusvariante EG.5 zurückzuführen, die sich hierzulande zunehmend verbreitet. Sie gehört zur Omikron-Familie. "Es war zu erwarten, dass sich das Virus weiterentwickelt", sagte Ciesek. Sars-CoV-2 verändere sich immer noch viel häufiger und viel schneller als seine endemischen Verwandten. Deshalb sei auch noch keine wirkliche Saisonalität erkennbar wie etwa bei der Grippe, die typischerweise nach dem Jahreswechsel eine Infektionswelle auslöst.
Ciesek hat vor allem die "Pirola"-Variante, BA.2.86, im Blick, die sich von ihrem nächsten Verwandten mit knapp 30 Veränderungen im Spike-Protein unterscheidet. "So richtig viel wissen wir noch nicht über diese Variante", so die Virologin. Man geht davon aus, dass sie im Körper eines Menschen mit geschwächtem Immunsystem entstanden ist und dann übertragen wurde. "Da muss man, denke ich, noch ein paar Wochen abwarten, bis man wirklich beurteilen kann, was diese Variante so anders macht." Besorgt über die neuen Virusvarianten sei sie aber "nicht so richtig". In Deutschland ist BA.2.86 bisher noch nicht nachgewiesen worden. "Das liegt sicherlich nicht daran, dass es die hier nicht gibt", merkte Ciesek an, "sondern dass wir gar nicht mehr nach ihr gucken."
Die Überwachung des Coronavirus in Deutschland hat deutlich nachgelassen: Getestet werden in Kliniken nur noch Mitarbeitende und Patientinnen und Patienten mit akuten Atemwegssymptomen; Selbsttests nutzt nur noch ein Bruchteil der Menschen; Sequenzierungen, mit denen man herausfinden kann, welche Virusvarianten zurzeit vermehrt zirkulieren, werden nicht mehr vergütet und finden deshalb kaum noch statt; und das Abwassermonitoring sei "immer noch nicht repräsentativ", sagte Ciesek. Das Virus hat also hierzulande gute Chancen, sich unbemerkt schnell zu verbreiten. Die aktuellen Fallzahlen könnten nur die Spitze des Eisbergs sein.
In den Kliniken sei die Situation derweil "stabil", berichtete Stefan Kluge, Intensivmediziner am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Die wenigsten Patientinnen und Patienten würden mittlerweile wegen Corona behandelt, sondern das Virus ist eher ein zusätzlicher Begleiter einer anderen Erkrankung. Der Intensivmediziner geht allerdings davon aus, dass die Krankenhäuser auch in diesem Herbst und Winter wieder schnell an ihre Belastungsgrenzen stoßen könnten. Und schuld daran ist weniger das Coronavirus.
Schon jetzt seien die Intensivstationen laut Kluge "sehr gut ausgelastet". Kommen zu den Patientinnen und Patienten, die zum Beispiel wegen eines Schlaganfalls oder eines Herzinfarkts intensivmedizinisch versorgt werden müssen, noch Corona- und auch Grippe-Fälle hinzu, "bekommen wir natürlich Probleme". Denn nicht nur nimmt die Patientenzahl zu, es ist auch davon auszugehen, dass sich Mitarbeitende infizieren, die dann krankheitsbedingt ausfallen. Dabei sei bereits jetzt der Fachkräftemangel "unser größtes Problem auf den deutschen Intensivstationen". Rund ein Viertel der Intensivbetten sei deshalb nicht nutzbar.
Auch Leif Erik Sander, Impfstoffforscher an der Berliner Charité, fürchtet, dass der Herbst und Winter für die Kliniken noch mal herausfordernd werden könnte. "Wir haben insgesamt ein strukturelles Problem im Gesundheitswesen", sagte er, "und diese saisonalen Anstiege von Infektionskrankheiten, die zunehmende Multimorbidität der Patienten und so weiter – das bringt uns sehr schnell an die Belastungsgrenzen. Und es wird, glaube ich, auch diesen Herbst wieder passieren." Besonders gefährdet seien aus seiner Sicht die Kindermedizin und Notaufnahmen.
Der Impfstoffexperte appellierte deshalb an alle Risikopersonen, sich gegen Covid-19 impfen beziehungsweise erneut boostern zu lassen. Zu den Risikopersonen zählen unter anderem Menschen mit Vorerkrankungen, über 60-Jährige und Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen. Für sie stellt eine Corona-Infektion nach wie vor ein hohes gesundheitliches Risiko dar. Am besten sollte die Corona-Impfung gleich mit der Grippeimpfung kombiniert werden, um sich auch vor dieser Krankheit zu schützen.
Sander sieht jedoch ein Problem: "Die Boosterimpfungen, glaube ich, werden nicht so viele Menschen möglicherweise in Anspruch nehmen." Deshalb müsse man frühzeitig auf das Impfangebot aufmerksam machen. Zur Verfügung stehen dieses Mal an die Omikron-Sublinie XBB.1.5 angepasste Impfstoffe, die besser vor der aktuell dominierenden Virusvariante schützen sollen. Am Ende könne man froh sein, wenn sich so viele Menschen wie möglich gegen Covid-19 impfen lassen. Denn: "Wir sind zwar aus der Pandemie raus, aber die Viren sind noch da."
dp/fa