Inzwischen sind die letzten Regenwolken des Sturmtiefs "Daniel" abgezogen. Aber noch gibt es keine Entwarnung, im Gegenteil. Am Freitag lösten die Behörden Katastrophenalarm für die 165.000 Einwohner zählende Stadt Larisa aus, weil der Fluss Pinios durch Wasser aus den umliegenden Bergen immer weiter anschwoll. An drei Stellen brachen gegen Mittag die Deiche. Am Nachmittag standen bereits einige Stadtteile unter Wasser, und der Pegel des Pinios stieg immer weiter an.
Am Freitag flog Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ins Katastrophengebiet. Er versprach den Flutopfern schnelle Hilfe. "Wir werden alles Menschenmögliche tun", sagte der Premier. Er verstehe den Ärger und die Wut der Menschen. Sobald alle gerettet seien, werde mit der Aufnahme der Schäden begonnen, kündigte Mitsotakis an. Für Entschädigungen und den Wiederaufbau werde es genug nationale und EU-Gelder geben, versprach der Regierungschef. 40 Hubschrauber und Dutzende Fahrzeuge der Armee waren im Einsatz, um Menschen aus den abgeschnittenen Dörfern zu retten. Manche hatten seit Tagen auf Hausdächern ausgeharrt. Unter den bisher etwa 2000 Geretteten sind vor allem ältere Menschen. Viele waren völlig entkräftet und weinten.
Wie viele Opfer die Überschwemmungen gefordert haben, ist noch unklar. Bis zum Freitagabend wurden zehn Tote geborgen. Es gibt zahlreiche Vermisste. Dutzende Dörfer sind weiter von der Außenwelt abgeschnitten. Die Opferzahlen dürften noch steigen, wenn das Wasser zurückgeht und die Rettungsmannschaften die jetzt noch überfluteten Dörfer erreichen. Zu den Vermissten gehört auch ein junges österreichisches Ehepaar aus Graz, das am Fuß des Pilion-Gebirges Urlaub machte. Ein Vermieter von Ferienwohnungen in der Ortschaft Xinoviysi sagte, das Paar sei mitsamt dem Ferienhaus von der Sturzflut ins Meer gerissen worden.
Die Ebene von Thessalien, eines der wichtigsten Anbaugebiete Griechenlands für Getreide und Baumwolle, gleicht einem riesigen See. Aufnahmen des europäischen Erdbeobachtungssatelliten Sentinel-1 zeigen: 720 Quadratkilometer sind überflutet, eine Fläche so groß wie Hamburg. Das Wasser steht vielerorts vier Meter hoch. Dörfer wie Metamorfosi und Palamas sind fast völlig in den Fluten untergegangen. In der thessalischen Ebene, die von Bergen umgeben ist, kann das Wasser nicht durch Flussläufe abfließen. Man muss warten, bis es versickert oder verdunstet. Das kann Wochen dauern.
"Ich glaube, wir haben das volle Ausmaß dieser Katastrophe noch gar nicht begriffen", sagt Efthymios Lekkas, Professor für Geowissenschaften und Katastrophenmanagement an der Universität Athen. Er glaubt, dass es "mindestens fünf Jahre dauern wird, bis sich die Region von der Flut erholt hat und der Anbau auf den Feldern wieder möglich ist". In der Kreisstadt Larisa wurde ein Krisenzentrum eingerichtet. Dort sollen Militär, Zivilschutz, Feuerwehren und Hilfsorganisationen die Versorgung der Bevölkerung sowie die Wiederherstellung der vielerorts zusammengebrochenen Strom- und Wasserversorgung koordinieren. Die Zerstörungen der Infrastruktur sind immens. Die Flut hat Straßen weggespült und Brücken zum Einsturz gebracht. Es wird viele Milliarden Euro kosten und Jahre dauern, diese Schäden zu beheben.
Die 145.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Hafenstadt Volos war am Freitag den vierten Tag in Folge zu großen Teilen ohne Strom und Trinkwasserversorgung. Die Menschen wurden, wo es möglich war, mit Tankwagen versorgt. Aber viele Straßen waren unpassierbar. Verheerend wütete das Unwetter auch in den Ortschaften des Pilion-Gebirges. Die Halbinsel ist mit ihren wenig besuchten Stränden und malerischen Bergdörfern ein Geheimtipp für Griechenland-Urlauberinnen und -Urlauber.
Viele der traditionellen Häuser der Region sind jetzt abbruchreif, weil die Wasserfluten ihre Fundamente unterspült haben. Bei der Ortschaft Platanias wurden 105 Einheimische sowie Touristinnen und Touristen mit einem Ausflugsboot von einem Strand evakuiert, weil alle Straßenverbindungen ins Landesinnere überflutet oder weggespült sind. Viele Urlauber mussten ihre Autos zurücklassen. Auch auf den Sporadeninseln wie Skopelos, Skiathos und Alonisos haben die Unwetter große Verwüstungen angerichtet.
So viel Regen in so kurzer Zeit wurde noch nie seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen in Griechenland gemessen. In der Ortschaft Zagora fielen innerhalb von 20 Stunden 745 Liter Niederschlag pro Quadratmeter. Das ist doppelt so viel wie in Athen in einem ganzen Jahr. In Volos ging innerhalb von zwölf Stunden sechsmal mehr Regen nieder als normalerweise im ganzen September. In Larisa registrierte die örtliche Wetterstation 12.000 Blitze innerhalb von zwei Stunden.
Meteorologen haben keinen Zweifel daran, dass die extremen Niederschläge mit dem Klimawandel zusammenhängen. In diesem Sommer waren die Wassertemperaturen im östlichen Mittelmeer höher als je zuvor seit dem Beginn der Messungen. Das begünstigt die Entstehung der sogenannten Medicanes, der Mittelmeerhurrikans. Solche tropischen Wirbelstürme waren früher in der Mittelmeerregion äußerst selten.
"Medicanes gab es in der Vergangenheit etwa alle 300 Jahre", sagt der Klimaforscher Christos Zerefos, der dem griechischen Beirat für den Klimawandel angehört. In Zukunft werde man mit mehr Stürmen rechnen müssen. Auch Nikos Michalopoulos, Forschungsdirektor des Athener Observatoriums, bestätigt: "Wir beobachten immer mehr solcher Phänomene im September, Oktober und sogar November."
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