Die Ampel hat in ihrem Koalitionsvertrag die Pläne erweitert und konkretisiert. In dem Papier ist festgehalten, dass der Ausstieg "idealerweise" auf 2030 vorgezogen werden soll. Noch in diesem Herbst soll evaluiert werden, ob dies machbar ist. In diesem Jahr decken Braun- und Steinkohle nach Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für solare Energiesysteme bislang knapp ein Viertel des Strombedarfs ab. Der weit überwiegende Anteil wird mit 535 Gigawattstunden von den Braunkohlemeilern getragen.
Lindner sagte im Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger: "Vereinfacht gesagt ist Energie teuer, wenn sie knapp ist. Deshalb ist jetzt nicht die Zeit, Kraftwerke abzuschalten. Solange nicht klar ist, dass Energie verfügbar und bezahlbar ist, sollten wir die Träume von einem Ausstieg aus dem Kohlestrom 2030 beenden." In NRW ist indes bereits der Ausstieg aus der dortigen Verstromung von Braunkohle für das Jahr 2030 beschlossen.
"Den Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier 2030 in Nordrhein-Westfalen für die aktuell gestiegenen Strompreise verantwortlich zu machen ist nicht nachvollziehbar. Parteipolitik bei solch einem Thema schürt Unsicherheiten, bei Industrie, Mittelstand und den Menschen", sagte NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur (Grüne). Sie erinnert zudem daran, dass für den Ausstieg auch bundesgesetzliche Änderungen nötig waren. "Dieser Gesetzentwurf ging von den regierungstragenden Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und eben auch der FDP aus und wurde vom Bundestag gebilligt."
Klar ist, dass Ersatz für die Kohlemeiler geschaffen werden muss. Genau deshalb will die Bundesregierung den Ausbau der Erneuerbaren beschleunigen – wofür sich Lindner nun auch ausdrücklich ausgesprochen hat. Zudem arbeitet das von Robert Habeck (Grüne) geführte Wirtschaftsministerium an einer Kraftwerksstrategie. Gaskraftwerke werden ein wichtiger Pfeiler werden. Sie sollen zum Teil auch mit Biogas getrieben werden und später auf Wasserstoff umgestellt werden können. Und Lindner will die hiesige Erdgasförderung forcieren. Zudem kann Deutschland elektrische Energie aus Nachbarländern importieren, was in den vergangenen Monaten verstärkt geschah: Vor allem aus Skandinavien kam viel grüner Strom.
Kerstin Andreae, Chefin des Dachverbandes der Energiewirtschaft, sagte: "Die Bundesregierung sollte rasch Klarheit darüber schaffen, wie Versorgungssicherheit in Deutschland mittel- und langfristig organisiert werden soll." Ein Kohleausstieg im Jahr 2030 hänge von ausreichend steuerbarer Leistung, insbesondere in Form von wasserstofffähigen Kraftwerken ab. "Hier ist Eile geboten, denn Projektrealisierungszeiten im Kraftwerksbau betragen zwischen vier und sechs Jahren", so Andreae. Es sei sinnvoll, Anreize für Investitionen in solche Kraftwerke zu setzen. Zudem müssten Genehmigungsverfahren beschleunigt werden.
Wenn der Kohleausstieg zurückgenommen wird wirkt sich das verheerend auf die Klimabilanz aus. Schon jetzt hinkt Deutschland deutlich hinter den Zielen her, die sich die Bundesregierung gesteckt hat. Der Rückstand würde sich bei langen Laufzeiten für Kohlemeiler erheblich vergrößern. Allein durch den um acht Jahre vorgezogenen Braunkohleausstieg in NRW sollen laut Landesregierung 280 Millionen Tonnen CO₂ weniger in die Luft geblasen werden. Lindner betont indes, dass ein Kohleausstieg im Jahr 2030 nichts bringe, "da die in Deutschland eingesparten CO₂-Emissionen aufgrund der europäischen Regeln zum Beispiel in Polen zusätzlich anfallen dürfen".
Lindner spielt dabei auf das europäische Emissionshandelssystem an. Kohlekraftwerke müssen sich CO₂-Verschmutzungszertifikate kaufen, um ihre Anlagen zu betreiben. Die Zertifikate werden in der EU an den Energiebörsen gehandelt. Doch mit dem Stilllegen von deutschen Kohlekraftwerken steigt nicht das Angebot an CO₂-Zertifikaten, die dann polnische Kraftwerksbetreiber kaufen könnten. Denn die in Deutschland durch einen Kohleausstieg frei werdenden CO₂-Zertifikate müssten gelöscht werden, "damit die Emissionen auch nicht an anderer Stelle in Europa anfallen", betont Olaf Bandt, Chef der Umweltorganisation BUND. Er fügt hinzu: "Falsche Informationen werden nicht richtig, nur weil sie beharrlich wiederholt werden."
Der Zertifikatehandel auf den Strompreis verteuert den Kohlestrom, das gilt insbesondere für Braunkohle, die eine hohe Menge CO₂ pro erzeugter Kilowattstunde in die Luft bläst. Diese Kosten werden in den nächsten Jahren noch massiv steigen, weil die EU in ihrem Klimaschutzprogramm "Fit for 55″ beschlossen hat, bis 2030 die Zahl der Zertifikate kontinuierlich zu reduzieren, was die Preise weiter in die Höhe treiben und insbesondere Erneuerbare attraktiver machen soll. Mehrere Studien gehen davon aus, dass Erdgas schon in den nächsten Jahren zumindest billiger als Braunkohle wird. Bei Steinkohle kommt als Kostenfaktor hinzu, dass Kraftwerksbetreiber komplett von Importen und damit von den teils heftigen Preisschwankungen am Weltmarkt abhängig sind.
Nicht nur von Umwelt- und Klimaschützern kommt Kritik. Auch Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, sagte im Deutschlandfunk: Es sei nicht gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland, den beschlossenen Kohleausstieg wieder aufzuschnüren. Zurzeit gebe es einen Vertrauensverlust in die Politik, und dem müsse die Politik durch mehr Stringenz begegnen.