Tunesien sollte dafür sorgen, dass keine Boote mit Migrantinnen und Migranten mehr von den Küsten Tunesiens in Richtung Lampedusa und Sizilien aufbrechen; dafür sollte die EU dem von einer schweren Wirtschaftskrise gebeutelten Land mit Finanzhilfen von etwa einer Milliarde Euro unter die Arme greifen. Gleichzeitig hatte die Regierung von Giorgia Meloni vor wenigen Tagen ein Dekret erlassen, mit welchem die maximale Aufenthaltsdauer in den Abschiebezentren von zwölf auf 18 Monate erhöht wurde. Das Ziel bestand darin, alle Migranten, die aus einem "sicheren Herkunftsland" stammen, umgehend zu internieren und sie danach in einem beschleunigten Verfahren abzuschieben.
Der von Meloni und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eingefädelte Deal mit Tunesiens Machthaber Kais Saied war von Beginn an stark umstritten: Der tunesische Präsident ist gerade dabei, in seinem Land die letzten Reste der demokratischen Institutionen zu demontieren. Der Populist von Tunis führt außerdem eine Hasskampagne gegen schwarzafrikanische Einwanderer und scheut auch nicht davor zurück, die Migranten in die Sahara zurückzuschicken. Nun lässt Saied das Abkommen platzen: Er bezeichnete die Finanzhilfen als "Almosen". Tunesien sei zur Zusammenarbeit bereit, nehme aber keine "Gefälligkeiten" an, "wenn sie respektlos sind", sagte Saied. Die Ablehnung des Geldes erfolge „nicht wegen des lächerlichen Betrags", sondern weil der Vorschlag der EU-Kommission nicht dem in Tunis unterzeichneten Abkommen entspreche.
Ein großer Teil der in Aussicht gestellten Finanzhilfen sind an wirtschaftliche Reformen und an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards geknüpft – davon will Saied nichts wissen. Für die eigentliche Bekämpfung der irregulären Migration in Richtung Europa waren nur 105 Millionen Euro vorgesehen. Man kann aber davon ausgehen, dass das letzte Wort bezüglich des Migrationsabkommens noch nicht gesprochen ist – vielmehr dürfte es sich um ein Manöver des tunesischen Präsidenten handeln, den Preis für den Deal in die Höhe zu treiben. Immerhin hat der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdogan nach der Flüchtlingskrise von 2015 aus Brüssel 6 Milliarden Euro erhalten, um die syrischen Kriegsflüchtlinge zurückzuhalten. Im Vergleich dazu erscheint Kais Saied die von der EU versprochene Milliarde als etwas mickrig.
Das – zumindest vorläufige – Platzen des Abkommens mit Tunesien ist ein schwerer Rückschlag für die Bemühungen der italienischen Regierung (und auch der EU), die irreguläre Immigration über das Mittelmeer einzudämmen. Tunesien ist das Land, von dem aus mit Abstand die meisten Bootsflüchtlinge in Richtung Lampedusa losfahren: Ihre Zahl hat sich in diesem Jahr verdreifacht. Ohne die Kooperation der tunesischen Behörden ist es unmöglich, das Ablegen der Boote zu verhindern. Und es ist auch nicht möglich, eine wie auch immer geartete "Seeblockade" vor der tunesischen Küste aufzuziehen: Die italienischen oder europäischen Schiffe, die die Flüchtlingsboote abfangen müssten, wären darauf angewiesen, dass Tunesien die Migrantinnen und Migranten danach umgehend zurücknimmt. Und das ist ohne Abkommen nicht der Fall.
Der zweite Dämpfer für Ministerpräsidentin Meloni wiegt nicht weniger schwer. Am Montag hat eine Richterin in Catania vier tunesische Asylbewerber auf freien Fuß gesetzt, die zuvor aufgrund eines neuen Regierungsdekrets in das Abschiebezentrum von Pozzallo gesperrt worden waren. Der Erlass sollte es den Behörden erlauben, sämtliche irregulären Einwanderer und Einwanderinnen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern umgehend in Abschiebelagern zu internieren, und zwar nicht mehr für maximal zwölf Monate, sondern gleich für 18 Monate – es sei denn, die Migranten zahlen eine Kaution von 5000 Euro. Die Opposition sprach im Zusammenhang mit der Kaution von "staatlicher Erpressung". Nun ist der Erlass, alles andere als unerwartet, bereits bei der ersten juristischen Überprüfung als verfassungswidrig und nicht konform mit dem EU-Recht bezeichnet worden.
Für Meloni bedeuten das Scheitern des Abkommens mit Tunesien und die Abfuhr für ihr Dekret: Erst einmal kein Nachlassen des Migrationsdrucks auf Lampedusa und in Sizilien, keine beschleunigten Abschiebungen. In Italien sind in diesem Jahr laut Angaben des Innenministeriums bereits 135.000 Geflüchtete und Migranten angekommen. Im gesamten letzten Jahr waren es 72.000 und im Jahr 2021 48.000 gewesen.