Beim Thema Migration gebe es "so etwas wie ein Wunschdenken von anständigen und guten Menschen", sagte Gauck. Im Grunde sei Aufnahmebereitschaft etwas Gutes, deshalb fürchte sich die Politik trotz Rückhalts dafür in der Bevölkerung vor solchen Entscheidungen.
Durch den "Druck der Realität" habe sich dies geändert. "Durch die Wahrnehmung der wirklichen Wirklichkeit auch bei grünen und sozialdemokratischen Oberbürgermeistern, die die Arbeit haben." Dort sei das Bewusstsein gewachsen, dass nicht alles Wünschbare umsetzbar sei, sagte Gauck. Es bedürfe mitunter "auch der Härte". Sonst drohten zunehmende Wahlerfolge rechter Parteien. "Und so entsteht dann ein politischer Druck, der unsere hehren moralischen Ziele durch Anerkennen der Wirklichkeit verändert."
Einwanderung brauche auch Integration, betonte Gauck. "Sonst stehen wir vor den Parallelgesellschaften, in denen Denk- und Verhaltensweisen aus autoritären, patriarchalischen Staaten weiterleben." Er verwies auf jüngste israelfeindliche Demonstrationen. "Über viele Jahre wollte man im politisch korrekten Milieu darüber nicht sprechen; Antisemiten, das waren nur die Rechtsradikalen. Doch ein Antisemitismus, der in den arabischen Ländern systematisch im Kindergarten und in den Schulen vermittelt und in Familien verstärkt wird, muss genannt werden, was es ist: ein Übel. Und das können und wollen wir nicht einfach hinnehmen."
Gauck warnte, es sei ein Trugschluss zu glauben, man könne Debatten stoppen. "Die werden nicht gestoppt, sondern die gehen dann in die Räume, in denen die Nationalpopulisten absahnen." Nötig seien Diskussionen in der Mitte der Gesellschaft. "Aber tolerant zu sein gegenüber anderen Kulturen, gegenüber Fremden, anderen Religionen, das bedeutet nicht, jede Art von Andersartigkeit automatisch mit Anerkennung und Respekt zu begleiten. Manches muss kritisiert, unter Umständen sogar bestraft werden." Es habe lange gedauert, bis die ersten islamistischen Organisationen verboten worden seien.