Der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi hat in einem wegweisenden Bericht, den er am Montag der Europäischen Kommission vorgelegt hat, zu umfassenden Reformen der Europäischen Union aufgerufen. Draghi fordert radikale Veränderungen in der europäischen Wirtschaftspolitik, um die Union angesichts der wachsenden globalen Konkurrenz aus China und den USA zukunftssicher zu machen. Sein Bericht schlägt unter anderem die Einführung von Eurobonds, eine neue Industriestrategie sowie eine Anpassung der EU-Regulierung vor.
Draghi hebt hervor, dass die EU sich einer Ära des offenen, regelbasierten Handels gegenüber sieht, die seiner Meinung nach zu Ende geht. In seinem Bericht fordert er die Einführung gemeinsamer Schuldtitel oder Eurobonds, um große Investitionsprojekte der Mitgliedstaaten zu finanzieren und die Integration der Kapitalmärkte zu stärken. Dies könnte einen signifikanten Schritt in Richtung einer tiefergehenden Finanzintegration innerhalb der Union darstellen.
Er fordert zudem ein Ende der nationalen Vetos, die die Entscheidungsfindung in der EU oft blockieren. Draghi schlägt vor, den Rat der Europäischen Zentralbank zu reformieren, um Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit in allen Politikbereichen des Rates zu ermöglichen. Dies soll verhindern, dass einzelne Regierungen durch Vetorechte wirtschafts- oder außenpolitische Pläne blockieren.
Angesichts der massiven Subventionen für grüne Technologien in China und den USA schlägt Draghi vor, dass die EU defensive Handelsmaßnahmen ergreift, um wettbewerbsfähige Bedingungen auf globaler Ebene zu schaffen. Er warnt vor der Gefahr, dass China durch ausländische Direktinvestitionen wertvolles Know-how erlangt, das für europäische Innovationen und Sicherheit von entscheidender Bedeutung ist.
Draghi schlägt vor, die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen zu koordinieren, um die europäische Innovationskraft zu schützen. In seinem Bericht wird die Notwendigkeit betont, dass die EU sich auf zukünftige digitale Innovationen wie künstliche Intelligenz und Quantencomputing konzentrieren muss, um im globalen Wettbewerb nicht zurückzufallen.
Draghi fordert jährliche Mindestinvestitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro, um Europas Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Diese Investitionen sind laut Draghi notwendig, um die EU als globalen Führer in neuen Technologien und als Modell für Klimaverantwortung zu positionieren. Der italienische Politiker fordert neue Gemeinschaftsschulden zur Finanzierung dieser Investitionen und warnt davor, dass das europäische Sozialmodell ohne diese Investitionen nicht mehr finanzierbar sei.
Sein Bericht schlägt auch konkrete Maßnahmen für die europäische Automobilindustrie, Digitalisierung, Energieunion und Rüstungsproduktion vor. Draghi betont, dass es besonders wichtig sei, die Hürden wie hohe Energiepreise, überbordende Bürokratie und eine schleppende digitale Transformation abzubauen.
Die Reaktionen auf Draghis Bericht sind gemischt. Während deutsche Industrievertreter den Bericht als wichtigen Schritt zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit begrüßen, gibt es auch Widerstand gegen die vorgeschlagenen Eurobonds. Bundesfinanzminister Christian Lindner hat die Idee der Eurobonds entschieden abgelehnt und betont, dass Deutschland einer Vergemeinschaftung von Risiken und Haftung nicht zustimmen werde.
Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Draghis Bericht in Auftrag gegeben hatte, wird diesen in ihre Pläne für die kommende Amtszeit einfließen lassen. In ihrer nächsten fünfjährigen Amtszeit will sie sich auf das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit konzentrieren, nachdem ihre erste Amtszeit von der Bekämpfung des Klimawandels und der Bewältigung der Covid-19-Pandemie geprägt war.
Der Bericht wird nun in den politischen Diskurs der EU einfließen, und es bleibt abzuwarten, wie die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission die vorgeschlagenen Maßnahmen umsetzen werden. Draghis Forderung nach radikalen Reformen und einer neuen Industriestrategie setzt einen anspruchsvollen Rahmen für die zukünftige Entwicklung der Union.