1990 erklärte sich Transnistrien unabhängig von Moldau, 1992 kam es zu einem Krieg mit Hunderten Toten, der nach Eingreifen und anschließender Vermittlung Russlands mit einem Waffenstillstand endete. Nur wegen der Unterstützung aus Moskau gibt es Transnistrien gut 30 Jahre später immer noch. Russland bewahrt sich damit gewaltigen Einfluss in der Region – und lässt sich das viel kosten. Auf einer Fläche, die eineinhalb Mal der des Saarlands entspricht, erstreckt sich Transnistrien vor allem am linken Ufer des Flusses Dnister. Rund 350.000 Menschen leben in dem schmalen Landstrich, etwas mehr als in Bielefeld. Am rechten Ufer – also westlich – liegt die Republik Moldau mit ihren 2,6 Millionen Einwohnern. Im Osten grenzt die Ukraine an. Russland hat rund 1500 Soldaten in Transnistrien stationiert.
Die Ukraine schloss nach Beginn des russischen Überfalls die Grenze zu Transnistrien – aus Angst, dass Moskau von dort aus eine weitere Front aufmachen könnte. Im Frühjahr vergangenen Jahres sagte der russische Generalmajor Rustam Minnekajew, dass der Angriff auf die Ukraine die Chance bieten werde, einen Landkorridor nach Transnistrien zu schaffen. Im Februar behauptete der russische Außenminister Lawrow, der Westen wolle, dass der EU-Beitrittskandidat Moldau die Rolle der "nächsten Ukraine" spiele.
70 Kilometer liegen zwischen Moldaus Hauptstadt Chisinau und Tiraspol, der Hauptstadt Transnistriens. Dass die Fahrt eineinhalb Stunden dauert, liegt an den schlechten Straßen und der Grenzkontrolle durch die transnistrischen Behörden. Auf dem Dach der Kontrollstelle prangt das Staatswappen mit rotem Stern, mit Hammer und Sichel und mit einem Kranz aus Weizenähren. Weder Moldau noch ein anderer Staat der Welt erkennen diese Grenze an, hinter der abrupt die Schrift auf den Schildern wechselt: Die Republik Moldau verwendet das lateinische Alphabet, Transnistrien das kyrillische.
Kurz vor Tiraspol führt die Straße vorbei am Sheriff-Stadion. Der moderne Sportkomplex dient dem Verein FC Sheriff Tiraspol als Heimat. Sheriff ist der Name des Mischkonzerns des Oligarchen und ehemaligen KGB-Offiziers Viktor Guschan. Der Konzern mit dem fünfzackigen Sheriffstern-Logo betreibt Tankstellen, Supermärkte, Medienunternehmen, eine Schnapsbrennerei, eine Bank, das Hotel Russland und Autohäuser, in denen er unter anderem Mercedes-Limousinen verkauft – und das ist nur ein Teil der Aktivitäten.
Sheriff ist überall, der Konzern dominiert Transnistrien wirtschaftlich und wohl auch politisch. Eine moldauische Expertin sagt über Transnistrien: "Das ist kein Land, das ist eine Holding." Ein westlicher Landeskenner spricht von einem "Gangsterregime, das Geld machen will". Das Regime mag Transnistrien für unabhängig halten, der FC Sheriff Tiraspol spielt dennoch in Moldaus Super-Liga – und ist dort eine Art FC Bayern München, nämlich Rekordmeister. Seit 2000/2001 gewann der Verein bis auf zwei Ausnahmen in jeder Saison die Meisterschaft, 2021/2022 spielte er in der Uefa Champions League. Die meisten Spieler sind aus afrikanischen Staaten.
In Tiraspol wirkt es, als wäre die Sowjetunion nie untergegangen. Hammer und Sichel sind nicht nur Teil des Staatswappens, sondern auch der rot-grün-rot gestreiften Flagge Transnistriens. Das Regime hat Transnistrien vor einigen Jahren noch eine zweite offizielle Flagge verordnet: die russische. Die Währung ist der transnistrische Rubel, die Münzen sind aus Kunststoff. Auch eigene Pässe gibt Transnistrien aus, was dem Selbstbewusstsein des Regimes dienen mag, ansonsten aber sinnlos ist: Nirgendwo außerhalb Transnistriens werden diese Papiere anerkannt. Viele Menschen haben daneben einen Pass aus Moldau – wozu Transnistrien völkerrechtlich weiterhin gehört –, aus Russland oder aus der Ukraine.
Die Straßen in Tiraspol sind nach Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin oder Karl Marx benannt. Eine Gorbatschow-Straße gibt es nicht, "der gilt hier als Verräter", sagt ein Bewohner. Kurz hinter dem Lenin-Monument liegt die Ehrengedenkstätte, wo an transnistrische Gefallene des Krieges mit der Republik Moldau, des Großen Vaterländischen Krieges und des Afghanistan-Krieges erinnert wird. Im Zentrum des Areals steht ein sowjetischer T-34-Panzer, die Kanone gen Westen in den Himmel gestreckt.
An der Straße, die nach dem russischen Revolutionär Jakow Swerdlow benannt ist, liegt das Restaurant Zurück in der UdSSR, und der Name ist Programm. An der Wand hängen Gemälde von Lenin, Marx und auch von Josef Stalin, der hier bislang nicht in Misskredit geraten ist. Fernseher, Plattenspieler, Telefone und Musikinstrumente aus Sowjetzeiten stehen in dem Lokal. In einer Glasvitrine werden alte Postkarten und Geldscheine präsentiert. Serviert werden gefüllte Teigtaschen mit Sauerrahm, Krautsalat, Streifen aus Schweinespeck, Borschtsch und Huhn. Auch mittags steht auf den Tischen schon eine Wodkaflasche. Am Ausgang prallen die alten Zeiten dann doch kurz auf die Moderne: Auf einem Schild wirbt das Restaurant bei seinen Besuchern für seinen Instagram-Auftritt.
Das Regime verwendet nicht die Bezeichnung Transnistrien, es spricht von Pridnestrowien, dem Land am Dnister, und es beharrt darauf, dass das ein echtes Land ist. Auch in der Verfassung heißt es: "Die Pridnestrowische Moldauische Republik ist ein souveräner, unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat." Nicht nur bei den Themen Souveränität und Unabhängigkeit steht Transnistrien allein da, auch den Punkt mit dem demokratischen Rechtsstaat sehen Kritikerinnen und Kritiker ganz anders. Die Organisation Freedom House stuft Transnistrien als "nicht frei" ein.
Spricht man Regimevertreter darauf an, dass kein einziges Land der Welt Transnistrien anerkennt, verweisen sie auf die abtrünnigen Gebiete Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien. Diese Regionen aus der Ex-Sowjetunion erkennen Transnistrien tatsächlich an, was allerdings den Schönheitsfehler hat, dass sie vom Großteil der internationalen Gemeinschaft selbst nicht anerkannt werden. Gemeinsam bilden diese Abtrünnigen die Gemeinschaft nicht anerkannter Staaten, ein Zusammenschluss, der an internationaler Bedeutungslosigkeit kaum zu überbieten sein dürfte. Die Flaggen Berg-Karabachs, Abchasiens und Südossetiens wehen in der Stadt und vor dem sogenannten Außenministerium.
Natürlich steht dem Ministerium auch ein sogenannter Außenminister vor, selbst wenn Transnistrien außerhalb des obskuren Zusammenschlusses keine offiziellen internationalen Beziehungen pflegen kann. Witali Ignaziew ist zugleich Chefunterhändler bei den Gesprächen zur Lösung des eingefrorenen Konflikts mit Moldau, die allerdings seit Jahren auf Eis liegen. Wenn er und andere Transnistrier reisen, müssen sie mangels eigener Infrastruktur den Flughafen in Moldaus Hauptstadt Chisinau nutzen.
Vorzüge eines Diplomaten genießt Ignaziew dabei nicht, er beklagt, dass er im Oktober vergangenen Jahres gar die Schuhe bei der Sicherheitskontrolle ausziehen musste, was er als Schikane empfunden hat. Am Ende wurde er so lange festgehalten, dass er seinen Flug verpasste. Dass Ignaziew außerhalb Transnistriens mit einem russischen Pass unterwegs ist, macht internationale Reisen in diesen Zeiten nicht einfacher.
Der Krieg hat das Regime in eine heikle Lage gebracht. Einerseits hängt sein Überleben von Russland ab. Andererseits pflegt es gute Beziehungen zur Ukraine, die vor der Sperrung der Grenze ein wichtiger Handelspartner war, über den auch jede Menge Schmuggelware gelaufen sein soll. Noch dazu besteht die Bevölkerung in etwa zu gleichen Teilen aus Moldauerinnen, Moldauern, Russinnen, Russen, Ukrainerinnen und Ukrainern. Die offizielle Haltung von Vertretern des Regimes ist, sich gegen den Krieg auszusprechen, wenn sie gefragt werden – dabei aber nicht Russland als Schuldigen zu benennen. "Unsere Regierung möchte weder Probleme mit Russland noch mit der Ukraine", sagt ein Bewohner Tiraspols. "Schweigen ist die beste Taktik."
Transnistrien ist ein Konstrukt von Moskaus Gnaden, das paradoxerweise auch durch die Republik Moldau am Leben erhalten wird. Russland liefert quasi zum Nulltarif Gas nach Transnistrien, wo im Kraftwerk Cuciurgan Elektrizität produziert wird, die wiederum Moldau kauft. Rund 70 Prozent des eigenen Strombedarfs deckt Moldau auf diesem Wege. Die Erlöse machen nach Angaben der Regierung in Chisinau mehr als die Hälfte des Budgets des Regimes in Tiraspol aus.
Moldaus Energieminister Victor Parlicov begründet das mit dem günstigen Preis für den Strom aus Transnistrien. Er betont aber auch, die Regierung in Chisinau sei anders als früher nicht mehr auf Elektrizität aus Transnistrien angewiesen. "Wenn man diesen Strom nicht von ihnen kauft, kann man sie sehr schnell wirtschaftlich strangulieren", sagt Parlicov. "Die Frage ist nicht, wie man sie stranguliert. Die Frage ist, was mit den Strangulierten geschehen soll." Er spielt auf die Kosten an, die eine Reintegration Transnistriens und der Menschen dort verursachen würden – die Republik Moldau ist eines der ärmsten Länder Europas.
Der Minister glaubt dennoch, dass Transnistriens Tage gezählt sind. "Diese Reintegration wird so oder so geschehen", sagt er. "Das Russland von heute hat nicht die Ressourcen, um Transnistrien am Leben zu erhalten." Außerdem sei da noch ein potenzieller Wendepunkt: Am 31. Dezember nächsten Jahres laufe der Vertrag zwischen Russland und der Ukraine zur Durchleitung von Gas aus – und das Gas für Transnistrien kommt durch die Ukraine. Die Regierung in Kiew habe bereits angekündigt, den Vertrag nicht zu verlängern, sagt Parlicov. "Das bedeutet, dass das russische Gas Probleme haben wird, nach Transnistrien zu gelangen."
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