Einst gegründet als Partei mit einer klar transatlantischen Orientierung, scheint die AfD in den zehn Jahren ihres Bestehens eine Reise zurückgelegt zu haben, die sie heute wohl weit über das in der Öffentlichkeit bekannte Maß hinaus an die kriegsführende Politik Wladimir Putins bindet.
Das Feld der Themen, die den Wahlkampf im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl am 8. Oktober dominieren, ist überschaubar: Da geht es um Migration, das Heizungsgesetz, ganz grundlegend um Politik der Ampel in Berlin, die Affäre um Hubert Aiwanger von den Freien Wählern. Das waren die Themen, die beispielsweise Bürgerfragerunden mit bayerischen Spitzenpolitikern im Fernsehen beherrschten. Bayerns AfD hat dagegen eine eigene Agenda gesetzt: Schon auf der Website bei der Vorstellung der Spitzenkandidaten werden mit Verweis auf den "Ausbruch des Krieges in der Ukraine" und "die fragwürdigen Maskendeals" eigene Akzente gesetzt.
Laut Correctiv wird in einer eigens auf dem Landesparteitag im Mai 2023 verabschiedeten "Bayerischen Dialoginitiative für Frieden in Europa" das Bundesland "Bayern als Brückenbauer zwischen Ost und West statt als Unterstützer Bidens einseitiger US-Interessen- und Geopolitik für eine gezielte Spaltung Eurasiens" bezeichnet. "Bayerns Landesverband sticht mit seiner Nähe zu Russland unter allen westlichen AfD-Landesverbänden besonders hervor", sagt Marcus Bensmann, Autor der Analyse. Der Text wurde laut Bensmann erst vor wenigen Tagen aus dem Netz genommen. "Weil man sich jetzt voll auf den Wahlkampf konzentriere", hieß es in der Begründung der Partei.
Die eigene AfD-Sicht auf den russischen Angriffskrieg, sie ist in der Partei, die laut Umfragen in den ostdeutschen Bundesländern bei rund 30 Prozent liegt, weitgehend akzeptiert und unstrittig. So attackierte der AfD-Vorsitzende Tino Chrupalla zuletzt im ARD-Talk "Hart aber fair" die "Kriegstreiber" der Ampelkoalition. Kampfbegriffe russischer Nationalisten, zum Beispiel das "Eurasien"-Modell (von Lissabon bis Wladiwostok) des Putin-nahen Ideologen Alexander Dugin oder Begriffe wie "multipolare Welt" sowie die Schmähung der USA als "raumfremde Macht" in Europa finden vermehrt in programmatische Texte von AfD-Funktionären Eingang.
"Der Einfluss der USA soll weltweit und auch in Europa zurückgedrängt werden. Die Welt ist diesem Konzept zufolge in Einflusszonen aufgeteilt, in denen die jeweiligen Großmächte über ihre Nachbarstaaten verfügen dürfen. Demnach hätte Russland freie Hand in der Ukraine und sogar über die baltischen Staaten sowie China in Taiwan", heißt es in der Untersuchung von Correctiv.
Wie sich die AfD eine "multipolare", also von diversen Machtzentren in jeweilige Einflusssphären unterteilte Welt vorstellt, hat Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl, in seinem 2023 erschienen Buch "Politik von Rechts – Ein Manifest" beschrieben: "In einer multipolaren Welt organisieren sich diese Regionen selber [...] Deshalb ist es richtig, wenn die konkrete Ausformung der Menschenrechte nicht global einheitlich, sondern je nach Kulturkreis verschieden verfolgt wird." Oder anders gesagt: Es gibt keine allgemeingültigen Menschenrechte mehr, es gilt das Recht des Stärken. Es obliegt jeder Nation, sich regional auf Grundlage eigener Stärke durchzusetzen, der Sieger definiert den Wertekanon.
"Wie das in der Praxis dann aussieht, erleben wir ja gerade in Berg-Karabach, wo Russland seine traditionellen Verbündeten, die Armenier, dem von der Türkei unterstützen aserbaidschanischen Autokraten ausgeliefert hat – 130.000 Menschen geraten dabei unter die Räder, werden vertrieben", kommentiert der Autor der Untersuchung, Marcus Bensmann.
Dass sich die Partei einen Sieg des russischen Aggressors im Krieg gegen die Ukraine wünscht, begründet Krah in seinem Buch an anderer Stelle: "Die ökonomische, kulturelle und politische Macht des Westens erodiert ... Falls Russland mit seinem Krieg gegen die Ukraine nicht komplett scheitert, wird es schnell eine andere Weltordnung und ein anderes Völkerrecht geben. Ohnehin aktive Veränderungsprozesse werden sichtbar und beschleunigt. Die politische Rechte kann dabei gewinnen."
Kriegsverbrechen, Hunderttausende Tote, Millionen Vertriebene allein in eineinhalb Jahren Krieg – alles gerechtfertigt, damit die existierende Weltordnung zerbricht und sich eine Neuordnung im Sinn rechter Fantastereien manifestiert? Das erinnert an die Aussagen, die Christian Lüth, ehemaliger Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, gegenüber der Youtuberin Lisa Licentia am 23. Februar 2020 teilte: "Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD. Das ist natürlich scheiße, auch für unsere Kinder. (…) Aber wahrscheinlich erhält uns das."
Es ist auffällig, welchen breiten Platz das Verhältnis zu Russland heute im Parteiprogramm der AfD, bei den Auftritten von AfD-Politikern, in Diskussionsforen der Partei und selbst bei den Landtagswahlen einnimmt. "Ich verstehe die Union als klassische Partei der Westbindung nicht, dass das nicht viel stärker thematisiert wird, warum diese Beißhemmungen?", wundert sich der Autor Bensmann. Auch der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke empfiehlt den demokratischen Parteien einen offensiveren Umgang mit den Rechtspopulisten – vor allem aber ein explizite Auseinandersetzung mit den Thesen der AfD.
"Statt mehr und mehr Positionen der AfD zu übernehmen oder sich ihnen anzupassen, kommt es für die Parteien darauf an, die Rechtspopulisten offensiv an ihren Positionen zu stellen – was tatsächlich ein Leichtes wäre. Denn: Die AfD steht für einen reaktionären Backlash, der verhängnisvolle Folgen für Deutschland hätte", so der Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik".
Von Lucke: "Die isolationistischen AfD-Positionen, die EU ‚für nicht reformierbar‘ und ‚als gescheitertes Projekt‘ zu verstehen, wie in der Präambel zum Europawahlprogramm formuliert, sowie die Forderung nach einer zu gründenden europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft als ‚Bund europäischer Nationen‘ sind ein aberwitziges Unterfangen. Das hätte fatale ökonomische Auswirkungen für Deutschland als Exportnation. Ganz zu schweigen vom geostrategischen Bedeutungsverlust gerade auch Deutschlands als europäischer Führungsnation im Falle einer Auflösung der EU."
Das gilt laut von Lucke auch "für die absolut prorussische Position der AfD und ihre Sympathien für eine ‚Eurasische Union‘. Damit bricht sie mit ‚der‘ Konstante der alten Bundesrepublik, nämlich ihrer transatlantischen Verortung, und stellt zugleich ihre militärische wie politische Absicherung durch die Nato aufs Spiel." Die Russland-Fixierung der AfD – sie ist das Ergebnis einer zehnjährigen Reise einer Partei, die einst klar transatlantisch und prowestlich begonnen hat.
Anzeichen, wo die Reise hingehen würde, zeigten sich schon früh. "Die Nato ist und bleibt die Klammer einer transatlantischen Sicherheitsarchitektur, deren entscheidender Anker das Bündnis mit den USA ist", hieß es noch im Programm der jungen Partei zur Europawahl 2014. Eine Modifikation dieses Kurses war bereits im Grundsatzprogramm von 2016 zu spüren: "Die AfD setzt sich für den Abzug aller noch auf deutschem Boden stationierten alliierten Truppen und insbesondere deren Atomwaffen ein. (…) Der ‚Kalte Krieg‘ ist vorbei. Die USA bleiben unser Partner. Russland soll es werden. Die AfD setzt sich deshalb für ein Ende der Sanktionen und eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland ein."
Heute treten AfD-Politiker in russischen Propagandasendungen auf und zeichnen ein düsteres Bild der "Meinungsdiktatur" Deutschland. AfD-Politiker feierten am 8. Mai 2023 in der russischen Botschaft in Berlin den "Tag des Sieges" und besuchten von Putin organisierte Wirtschaftsforen. Abgeordnete beschäftigten im Bundestag Personen mit mutmaßlichen Verbindungen nach Moskau wie Wladimir Sergijenko.
Autor Bensmann ist sich sicher, dass sich die AfD Machtoptionen verbaut: "Hätte sich die AfD am Kurs der italienischen Rechtspartei Fratelli d’Italia von Regierungschefin Giorgia Meloni orientiert, die weiterhin die angegriffene Ukraine unterstützt oder ein EU-weites Vorgehen befürwortet, um die Migration in Griff zu bekommen, oder an den ebenfalls mittlerweile mitregierenden Rechtsparteien in Schweden und Finnland – ich fürchte, dann hätten wir hier in Deutschland längst eine schwarz-blaue Machtperspektive. Doch sie hat mit ihrem Dogmatismus, die Russland-Fixierung gehört dazu, die Brandmauer zur Union selbst errichtet."
dp/fa