Schon vor zwei Wochen sei die Lage "brenzlig" gewesen, als russische Einheiten gegen ukrainische Verteidigungsstellungen anrannten. "Sie sind gescheitert, weil unsere Streitkräfte sie aufgehalten und ihre Ausrüstung und Waffen zerstört haben." Nun würden die Russen ihre Truppen neu formieren. "Die Intensität des Beschusses dort ist immer noch sehr hoch." Die Russen versuchen, so viele ukrainische Einheiten wie möglich in der Ostukraine zu binden, um weitere Vorstöße an der Südfront zu verhindern. Der ukrainische Generalstab musste bereits Truppen nach Kupjansk verlegen, um die Angriffe abzuwehren. Wie viele Kräfte die Russen zusammenziehen, ist nicht bekannt. Der Sprecher der Ostgruppe der ukrainischen Streitkräfte, Serhiy Cherevaty, hatte vor einigen Wochen noch von Zehntausenden Soldaten gesprochen.
Im Süden der Ukraine machen die ukrainischen Streitkräfte nun Tag für Tag weitere Fortschritte, doch die Kosten sind hoch. Erstmals ist nun offenbar auch ein britischer Kampfpanzer vom Typ Challenger 2 zerstört worden. Dies belegt ein verifiziertes Video von der Front. Das Rechercheportal Oryx meldet zudem 53 beschädigte oder zerstörte US-Schützenpanzer Bradley. Auch sechs deutsche Leopard-2-Panzer wurden laut verifizierten Bildern oder Videos zerstört, zehn weitere beschädigt.
"Der Leopard 2 ist aufgrund der durchdachten Konstruktion und starken Panzerung schwieriger zu zerstören als russische Panzer", sagt Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer. Der Panzer könne zwar ebenfalls durch Minen oder Beschuss beschädigt werden, lasse sich aber in vielen Fällen wieder instandsetzen. "Der Leopard-Panzer muss nur geborgen werden und das ist das eigentlich Schwierige."
Die US-Militärexperten Michael Kofman und Rob Lee argumentieren in einer neuen Analyse, dass die langsame Taktik der ukrainischen Offensive teilweise missverstanden worden sei. Mit der Strategie, "die russischen Streitkräfte durch Beschuss zu zermürben und schrittweise mit kleinen Einheiten vorzurücken", könne die Ukraine ihre Stärken ausspielen. Derzeit gibt es Hunderte kleine Angriffstruppen, von meist nicht mehr als acht oder zehn Soldaten. "Es ist ein zermürbender Kampf." Die Kampfkraft und die Reserven auf beiden Seiten spielen für den Ausgang der Offensive eine wichtige Rolle, sagen die Beobachtenden. Die Chancen der Ukraine hängen ihrer Einschätzung nach davon ab, wie gut der Westen die ukrainischen Streitkräfte bis zum Herbst dabei unterstützt, verlorene Ausrüstung zu ersetzen und Waffen und Artilleriemunition bereitzustellen.
Kofman und Lee waren vor einigen Wochen selbst an der Front, um mit Soldaten über Strategien und Lehren der letzten Monate zu sprechen. Sie berichten nun, dass es den neuen ukrainischen Brigaden "an ausreichendem Zusammenhalt innerhalb der Einheiten und Erfahrung mangelt". Es habe zu wenig Zeit für die Ausbildung gegeben. "Diese Brigaden bestanden zum Teil aus frisch mobilisierten Soldaten, viele davon ohne vorherige militärische Erfahrung." Führungskräfte seien aus anderen Einheiten geholt worden und die Soldaten mit dem Gelände nicht vertraut gewesen. "Von ihnen zu verlangen, dass sie ihren ersten Angriff an der Front durchführen, in einigen Fällen nachts, war eine große Herausforderung."
Die zahlreichen Probleme der neuen Truppen und die massiven Verteidigungsstellungen Russlands machen nachvollziehbar, warum die ukrainische Offensive bisher nur langsam vorankommt. Mit Panzerabwehrraketen nahe der Verteidigungslinie, Tausenden von Drohnen, schwerer Artillerie und dem Einsatz von Spezialeinheiten wurden die neuen Brigaden immer wieder zurückgeschlagen. "In der Folge mussten erfahrenere Einheiten, darunter auch schlechter ausgerüstete Kräfte der Nationalgarde, einspringen und sie in einigen Fällen an der Front ganz ersetzen", so die beiden Experten.
Gleichzeitig hat das russische Militär aus seinen anfänglichen Fehlern gelernt und ist nicht mehr auf riesige Munitionsdepots in der Nähe der Frontlinien angewiesen. "Stattdessen wird die Munition häufig von Lastwagen an Bahnhöfen auf der Krim oder in Russland abgeholt und an russische Einheiten in der Ukraine übergeben." Die Übergabepunkte würden regelmäßig wechseln und ein ukrainischer Raketenangriff auf die Munitionsdepots würde die russische Armee nicht mehr in dem Maße stören wie noch vor einem Jahr.
Dennoch bleiben die russischen Logistiklinien anfällig – und die Hartnäckigkeit der Ukrainer zahlt sich offenbar aus: Berichte von der Front belegen die immer schwieriger werdende Lage der russischen Truppen. So klagen die Feldkommandeure zunehmend über Munitionsmangel und ein wachsendes Ungleichgewicht bei der Artillerie zugunsten der Ukraine. Sollte es in Moskau oder Kiew nicht zu einer 180-Grad-Wende kommen, wird der Krieg nach Ansicht von Kofman und Lee so weitergehen wie bisher. "Die Bemühungen des Westens sollten sich an der Annahme orientieren, dass der Krieg bis weit ins nächste Jahr hinein andauern wird."
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