Kurz vor den EU-Beratungen hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch nach Angaben aus Regierungskreisen im Kabinett den Kurs ausgegeben, dass die Krisenverordnung nicht länger blockiert werden dürfe. Das Regelwerk ist ein zentrales Element der geplanten EU-Asylreform, mit der unter anderem unerwünschte Migration begrenzt werden soll. So soll etwa bei einem besonders starken Anstieg der Migration der Zeitraum verlängert werden können, in dem Menschen unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden können. Zudem könnte der Kreis der Menschen vergrößert werden, der für die geplanten strengen Grenzverfahren infrage kommt.
In Brüssel hatte die Bundesregierung ihre Ablehnung des Vorschlags für die Verordnung wochenlang damit erklärt, dass dieses Regelwerk EU-Staaten ermöglichen könnte, Schutzstandards für Migranten inakzeptabel zu senken. In Deutschland äußerten Außenministerin Annalena Baerbock und andere Politiker der Grünen zuletzt zudem die Befürchtung, dass die Krisenregeln "Anreize für eine Weiterleitung großer Zahlen unregistrierter Flüchtlinge nach Deutschland" setzen könnte.
Im Rat der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel wurde vermutet, dass diese Argumentation mit den bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern in Verbindung stehen könnte, weil diese Linie in den EU-Verhandlungen bis dato keine Rolle gespielt hatten. Nach den Plänen für die Asylreform müssten die Mitgliedstaaten auch bei einem starken Anstieg der Migration alle ankommenden Menschen registrieren. Eine mögliche Verlängerung von Fristen dafür wäre zudem nur nach vorheriger Zustimmung des Rates der Mitgliedstaaten möglich. Das Gleiche gilt auch für die Aufweichung von Schutzstandards. Es blieben demnach auch in einer Krisensituation noch etliche Kontrollmöglichkeiten, um Missbrauch zu verhindern.
Baerbock verwies am Donnerstag darauf, dass man noch etliche Punkte in den Text habe hereinbringen können. Sie hatte im Juni parteiintern in der Kritik gestanden, weil sie die damals vereinbarten Pläne für eine Verschärfung der regulären Asylverfahren akzeptiert hatte.
Die Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisation Pro Asyl bezeichnete die Entscheidung der Bundesregierung als "dramatisches Signal, dass Menschenrechte keine Rolle mehr spielen". "Während die Ampel-Regierung sich im Koalitionsvertrag noch vorgenommen hatte, rechtswidrige Pushbacks und das Leid an den Außengrenzen zu beenden, stimmt sie nun einer Verordnung zu, die genau dies massiv verschärfen würde", teilte die Organisation mit.
Grundlage der Ankündigung von Faeser war eine von der spanischen EU-Ratspräsidentschaft leicht überarbeitete Version des ursprünglichen Vorschlags für die Krisenverordnung. Sie soll es vor allem den deutschen Grünen ermöglichen, die Zustimmung nicht als große Niederlage aussehen zu lassen.
Nach dem neuen Text der EU-Ratspräsidentschaft wurde so zum Beispiel eine Regel gestrichen, die es EU-Ländern erlaubt hätte, bei einem starken Zustrom von Menschen zeitweise von EU-Standards für materielle Unterstützungsleistungen und den Zugang zu medizinischer Versorgung abzuweichen. Zudem soll die Anträge auf Schutz von Minderjährige und ihren Familienmitgliedern auch in Krisensituationen bevorzugt geprüft werden. Vorgesehen sind auch stärkere Informations- und Rechtfertigungspflichten für Länder, die die Verordnung in Anspruch nehmen wollen.
Weitreichend sind die Änderungen unter dem Strich allerdings nicht. So wäre auch mit dem ursprünglichen Text festgelegt worden, dass die Mitgliedstaaten auch in Krisensituationen die Grundbedürfnisse der Antragsteller in Bereichen wie Ernährung, Kleidung, angemessene medizinische Versorgung und Unterkünfte "unter uneingeschränkter Achtung der Menschenwürde" decken müssen. Nicht explizit im Text adressiert wurde auch die Sorge vor einer verstärkten Weiterleitung nicht-registrierter Migranten nach Deutschland.
Die geplante Asylreform soll möglichst rasch über die Bühne gehen. Denn die Zeit drängt: Im Juni nächsten Jahres ist Europawahl. Projekte, die bis dahin nicht mit den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt sind, könnten anschließend wieder infrage gestellt werden und sich lange verzögern. Im Fall der geplanten Reform des Asylsystems wäre dies ein besonders großer Rückschlag. An dem Projekt wird bereits seit Jahren gearbeitet. Vor allem rechte Parteien wie die AfD werfen der EU seit langem Versagen im Kampf gegen illegale Migration vor.
Vor dem Treffen in Brüssel war damit gerechnet worden, dass eine deutsche Zustimmung zu dem neuen Text ausreichen wird, diesen formell anzunehmen. Am Donnerstagnachmittag noch allerdings noch unklar, ob die erforderliche Mehrheit wirklich zustande kommt.
dp/fa