Zwar gebe es in den Schulen eine Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus. Das reiche aber nicht aus. "Es geht insbesondere darum, dass wir den gegenwartsbezogenen Antisemitismus vielleicht zu lange nicht so gesehen und zu sehr verharmlost haben", mahnte sie. "Es ist dringend geboten, dass wir alle Facetten des Antisemitismus stärker berücksichtigen im Bildungskanon in Deutschland", forderte die Ministerin.
Paus hatte sich zuvor mit Vertreterinnen und Vertretern des "Kompetenznetzwerks Antisemitismus" beraten. Nach Angaben des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus wurden in der ersten Woche nach dem Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel 202 antisemitische Vorfälle in Deutschland registriert und auch verifiziert. Das sei gegenüber dem Vorjahreszeitraum ein Anstieg um 240 Prozent. Die Situation sei sehr dynamisch, sagte Benjamin Steinitz vom Bundesverband. Er berichtete unter anderem von der Kennzeichnung von Wohnhäusern, in denen jüdische Familien lebten, mit einem Davidstern – was den Angaben zufolge aus mehreren Bundesländern gemeldet wurde. Das sei als Markierung potenzieller Angriffsziele zu verstehen und trage erheblich zur Verunsicherung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft bei, beklagte Steinitz.
In einer Aktuellen Stunde im Bundestag wurden die antisemitische Übergriffe in Deutschland und die Verherrlichung des Terrors der Hamas durch Demonstranten von den Ampelparteien, der oppositionellen Union und der Linkspartei einhellig verurteilt. Die Parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium, Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) sagte, es müsse jetzt darum gehen, mit der politischen und schulischen Bildung die Menschen zu erreichen, die in ihren Herkunftsländern oder ihren Familien "einseitig politisiert" würden.
"Für Terror gibt es keine Legitimation", sagte sie. "Und wenn unsere Sicherheitsbehörden gegen menschenverachtende Hetze einschreiten, ist dies der wehrhafte Rechtsstaat und nichts anderes", sagte sie zu Vorwürfen, es gebe in Deutschland "Palästinenser-Pogrome". Hierzu erwarte sie auch eine klare Distanzierung von islamischen Organisationen in Deutschland. "Ich erwarte eine Haltung, die den Terrorismus von Hamas ohne Wenn und Aber verurteilt", sagte sie. Der Parlamentarische Staatssekretär im Justizministerium, Benjamin Strasser (FDP), sagte: "Natürlich ist es so, dass es verfestigten Antisemitismus in muslimischen Communities in Deutschland gibt." Daher müsse die Regierung noch entschiedener und entschlossener gegen Antisemitismus vorgehen.
Für Entsetzen sorgte ein Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin. Zwei Vermummte warfen in der Nacht zum Mittwoch zwei Molotow-Cocktails in Richtung des von Sicherheitsleuten bewachten Gebäudekomplexes. Nach Angaben der Polizei zerbrachen die Flaschen auf dem Gehweg, wobei das Feuer erlosch. Die Täter konnten flüchten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach von einer "abscheulichen Tat". FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai forderte eine deutliche Reaktion von Staat und Gesellschaft auf antisemitische Vorfälle. "Der Rechtsstaat muss mit aller Härte auf Angriffe und Drohungen gegen jüdische Einrichtungen reagieren", sagte Djir-Sarai. "Aus der gesamten Gesellschaft braucht es ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus", mahnte er.
Gleichfalls in Berlin kam es am Dienstagabend und in der Nacht zu Mittwoch zu Ausschreitungen bei unangemeldeten, propalästinensischen Demonstrationen. Am Brandenburger Tor versammelten sich laut Polizei etwa 300 Menschen, wobei es zu Angriffen auf die Polizei kam. In Neukölln wurden ebenfalls Beamte verletzt, außerdem brannten Barrikaden, E-Scooter und ein Kinderspielplatz.
Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jochen Kopelke, sprach von einer "absolut widerlichen Stimmung" in Deutschland. "Alle Polizeien nehmen den Schutz jüdischer Einrichtungen und Menschen ernst, und das ist auch bitter notwendig", sagt er. Er klagte über eine "Gewaltspirale" und forderte: "Wir brauchen schnelle Gerichtsverfahren und Urteile gegen die Krawallmacher."
Durch die Einsätze der vergangenen Tage komme es zu einem massiven Mehraufwand für die Polizei, so Kopelke weiter. Dafür benötige man personelle Ressourcen und auch die Rückendeckung von Politik und Bevölkerung. "Dass der Schutz Israels Staatsräson ist, sind gute Worte, aber dann darf es auch keine Diskussionen darüber geben, dass die Polizei zu doll durchgreift", betont er.