"Bemerkenswert ist es, dass die Einstufung der AfD als rechts-extrem in mehreren Bundesländern nicht Wähler abschreckt, da sie dies als gezielte Ausschaltung der Partei durch die ‚alten Eliten‘ und ‚Staatsmedien‘ ansehen", sagt der Historiker Frank Bösch, Professor an der Universität Potsdam und Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF).
"Man muss ganz deutlich sagen: Nicht einheitlich, aber in großen Teilen der Gesellschaft wird Rechts-Extremismus nicht mehr als Problem wahrgenommen, es kann nicht mehr problematisiert werden. Vor allem in Ostdeutschland, wo man Umfragewerte der AfD von über 30 Prozent in sämtlichen ostdeutschen Bundesländern vorfindet", äußert auch der auf Rechts-extremismus spezialisierte Journalist Olaf Sundermeyer vom Rundfunk Berlin-Brandenburg.
Dem vorausgegangen "ist eine langwierige Entgrenzung, die dort stattgefunden hat – bereits zu einem Zeitpunkt, als es die AfD noch gar nicht gab, im Umgang mit der NPD beispielsweise. Es war ein langer Weg hin zu einer scheinbaren ‚Normalisierung‘ von Rechtsparteien, welche dazu geführt hat, dass die AfD heute als normaler Teil des Politikbetriebs zumindest in Ostdeutschland wahrgenommen wird, aber zunehmend auch im Westen", so Sundermeyer.
Dabei darf nicht übersehen werden, "dass die AfD der parlamentarische Arm des Rechts-Extremismus ist, der sich aber als ‚Neue Rechte‘ vom historischen Nationalsozialismus losgesagt hat. Anders als die NPD hat es die AfD verstanden, den Rechts-Extremismus vom NS-Stigma zu lösen – obwohl die ‚Neue Rechte‘ sich auch auf ultrarechte Positionen, auf Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, getarnt als ‚Ethnopluralismus‘ bezieht. Und diese Entkoppelung verfängt tatsächlich", ist Sundermeyer überzeugt. Viele Menschen bringen neurechte Bewegungen "nicht mehr in Verbindung mit der dunklen deutschen Vergangenheit, mit dem Holocaust, mit dem NS-Unrecht insgesamt", so der Extremismus-Experte.
Hat sich im öffentlichen Bewusstsein auch etwas verändert, weil NS-Vergleiche inflationär verwendet werden? Tatsächlich sind sie kein neues Phänomen, seit Jahrzehnten gehören NS-Analogien zum politischen Sprachgebrauch – ob berechtigt oder nicht.
Bereits in den 1980er-Jahren ließen sich selbst Spitzenpolitiker wie die ehemaligen Kanzler Willy Brandt (SPD) oder Helmut Kohl (CDU) zu NS-Vergleichen hinreißen, die allerdings in diesen Fällen überzogen waren – aber enorme Wirkungen in Form von Empörungseruptionen auslösten: So entfuhr es Brandt 1985 in einer Talkrunde, der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler sei "seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land!" Und Kohl stellte 1986 den sowjetischen Reformpräsidenten Michail Gorbatschow ebenfalls auf eine Stufe mit dem NS-Propagandisten Goebbels.
Nach einer breiten öffentlichen Empörung zogen beide später ihre Gleichsetzungen zurück. Was bedeutet: Damals zeigten NS-Vergleiche eine unvergleichlich stärkere Außenwirkung. "Generell bringt der pauschale Faschismusvorwurf wenig", ist der Historiker Bösch überzeugt. "Wichtiger ist, die konkrete Missachtung der Menschenwürde, den Rassismus oder auch die Ignoranz der AfD mit Beispielen klar zu benennen, etwa bei der ökologischen Herausforderung, die auch die Migration deutlich erhöhen wird", sagt der Potsdamer Forscher.
Er plädiert für "Augenmaß bei NS-Vergleichen. Denn die AfD ist selbst in Sachsen und Thüringen keine NSDAP. Das leichtfertige Verweisen auf solche Analogien verschafft nur kurz Aufmerksamkeit, relativiert dann aber selbst grausame Verbrechen".
Ähnliche Gefahren sieht der Historiker bei "zu leichtfertigen Verweisen auf einen ‚Genozid‘". "Mehr Menschen bemühen solche unhaltbare Analogien und relativieren damit die Massengewalt im Nationalsozialismus, etwa wenn sie Israels Umgang mit den Palästinensern mit dem Verhalten der Nazis vergleichen". So hätten beispielsweise "Gleichsetzungen oder Vergleiche mit der Judenverfolgung der 1930er-Jahre seit dem Covid-Lockdown zugenommen und selbst die AfD nutzt sie, um die eigene Opferrolle zu unterstreichen. Derartiges wird vor der Mehrheit jedoch klar zurückgewiesen", so Bösch.
Der Kommunikationswissenschaftler Sundermeyer sagt, "die AfD hat im Verbund mit Pegida und anderen außerparlamentarischen Protestinitiativen wie den Querdenkern und den alternativen Medien die Schutzzäune der Zivilität eingerissen, die unsere Gesellschaft nach dem Zivilisationsbruch der NS-Zeit errichtet hatte". Mit der Folge, "dass die Grenzen des Sagbaren unverrückbar verschoben wurden und rechts-extreme Positionen von wesentlichen Teilen der Gesellschaft akzeptiert werden."
Was wiederum dazu führt, dass "menschenfeindliche Einstellungen, insbesondere auch der Antisemitismus, wieder offen einen gesellschaftlichen Ausdruck finden". Für "die Aufarbeitung der historischen Schuld am Holocaust, an NS-Terror und Kriegsschuld bedeutet das, dass sie zunehmend ins Leere läuft", so Sundermeyer.
Das Risiko besteht, dass die auch vom Ausland viel gelobte "Aufarbeitung" der NS-Vergangenheit in Deutschland zum Ritual verkommt, reduziert auf Gedenktage und Pflichtbesuche von Gedenkstätten, zumal kaum noch Zeitzeugen und Zeitzeuginnen am Leben sind. Der Historiker Frank Bösch räumt ein, "Rituale sind nicht per se negativ: Wie Weihnachten oder Geburtstage bieten sie die Chance zur Besinnung und zum Austausch, weshalb man an ihnen festhalten sollte, aber ihre Ausgestaltung immer neu überdenken muss. Statt perfekten Inszenierungen wären überraschende im Alltag sinnvoll. Die Stolpersteine oder Twitter-Projekte zu einzelnen Opfern sind gute Beispiele dafür. Zudem sollte in der Auseinandersetzung die konkrete Gewalt der Täter und Beteiligten aufgezeigt werden, nicht allein das Leiden der Opfer."
Was das Gedenken an die NS-Verbrechen betrifft, plädiert Bösch daher für eine Modifizierung – "weil Gedenkstätten eben nicht primär Bildungsstätten für demokratisches Handeln sind". Also eine historische Darstellung, die implizit durchaus auf die gegenwärtige Missachtung demokratischer Werte verweist: "Das Gedenken sollte verdeutlichen, wie verbale und rechtliche Ausgrenzung in physische Gewalt umschlagen kann. Da Gedenkstätten die Missachtung von Menschenrechten aufzeigen, können sie über das Darstellen früherer Gewalt hinaus demokratische Werte fördern."