Dem ehemaligen Mitarbeiter werfen mehrere Personen Missbrauch und Gewalt vor. Die Taten sollen sich auch in einer Siegener Kirche abgespielt haben. Die zuständige Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Mann, der mittlerweile in Rente ist. Im Rahmen eines Schüler-Lehrer-Verhältnisses soll dieser seine Stellung ausgenutzt haben, um sich jungen Männern unangemessen zu nähern. Dabei soll es auch zu geschlechtlichen Handlungen gekommen sein.
Was heute noch strafrechtlich bewertet werden könne, sei laut Staatsanwaltschaft angesichts von möglicherweise verjährten Taten offen. Denn die Vorwürfe gegen den mutmaßlichen Täter reichen Recherchen der SZ zufolge zum Teil bis in die 1990er-Jahre zurück. Und genau so lange werden sie offenbar auch schon in heimischen Kirchenkreisen diskutiert.
Eine Mitwisserschaft hat Kurschus in Ulm nun erneut abgestritten. Bei der Versammlung des Kirchengremiums sagte sie, sie habe erst Anfang des Jahres durch eine anonyme Strafanzeige gegen den Beschuldigten von dem Vorwurf des Missbrauch erfahren. "Vorher hatte ich keine Kenntnis", beteuerte die Ratsvorsitzende. In dem Bericht der "SZ", so die EKD-Ratsvorsitzende, würden "Andeutungen und Spekulationen verbreitet". Diese weise sie "mit Nachdruck" zurück.
Doch es geht längst um mehr als "Andeutungen und Spekulationen". Die "SZ" hat mit einem weiteren Zeugen sprechen können, der die Vorgänge Ende der 1990er-Jahre bestätigt. Auch er war nach eigenen Angaben Teilnehmer des Gesprächs, das im Garten von Annette Kurschus stattgefunden habe.
Die ehemalige Superintendentin hatte in einem schriftlichen Statement behauptet, "in Gesprächen" sei es damals "um die geschlechtliche Orientierung des Beschuldigten" gegangen, nicht aber um Tatvorwürfe. Beide Männer, die sich auf das "Gartengespräch" bei Kurschus berufen, sagen, dass dies nicht stimmt. Es sei um konkrete Verfehlungen gegangen, die im Rahmen des Lehrer-Schüler-Verhältnisses des Beschuldigten aufgetreten seien. Auch ein mutmaßliches Opfer des Mannes habe damals bei Kurschus vorgesprochen.
Beide Teilnehmer des "Gartengesprächs" haben ihre Darstellungen der "SZ" gegenüber an Eides statt schriftlich versichert. Eine eidesstattliche Versicherung ist eine besondere Beteuerung, mit der eine Person bekräftigt, dass eine Erklärung der Wahrheit entspricht. In bestimmten Fällen ist eine solche Versicherung ein vor Gericht zugelassenes Mittel der Beweisführung.
Wie passen diese völlig gegensätzlichen Aussagen zusammen? Annette Kurschus ließ diesbezügliche Rückfragen seitens der "SZ" unbeantwortet. Dem Statement vor der Synode "hat Frau Kurschus nichts hinzuzufügen", so ein Sprecher des Landeskirchenamts.
Ein Schriftstück lässt indes weitere deutliche Zweifel an den Schilderungen von Kurschus aufkommen. So konnte die "SZ" einen Brief einsehen, den der Beschuldigte im Nachgang an das "Gartengespräch" an zwei der Teilnehmer von damals geschickt hatte. Darin nimmt der ehemalige Kirchenmitarbeiter Bezug auf das bei "Annette" geführte Gespräch – und droht mit rechtlichen Schritten, sollten die beiden die Vorwürfe, die sie Kurschus dargelegten hatten, aufrechterhalten.
Intern ist Annette Kurschus im Umgang mit der Missbrauchsaffäre im Kirchenkreis Siegen nach SZ-Informationen unter Druck geraten. Insider berichten, dass leitende Geistliche der EKD den Umgang der eigenen Ratsvorsitzenden in dieser Angelegenheit deutlich kritisieren.
Anna-Nicole Heinrich, seit 2021 Präses der EKD-Synode, sagte im Kirchen-Magazin "Die Eule", dass zwar ein Großteil der Synode nach Annette Kurschus‘ Ausführungen Applaus gespendet habe. Aber nicht alle hätten zu diesem Zeitpunkt bereits Gelegenheit gehabt, die Berichterstattung über die Vorwürfe gegen Kurschus wahrzunehmen. Der Applaus der Synode habe sie "irritiert" – sie selbst habe nicht geklatscht.
Die Rede ist in EKD-Kreisen auch von einer "Salami-Taktik" der Ratsvorsitzenden: So habe Kurschus, angesprochen auf die Kontakte zu dem heute Beschuldigten, zunächst zu Protokoll gegeben, dass "in Siegen jeder jeden kennt". Erst, als die "SZ" darüber berichtete, dass Kurschus die Patentante eines Kindes des Beschuldigten war, räumte sie ein, die beschuldigte Person "sogar sehr gut" gekannt zu haben.
In ihrem Statement vor der Synode ließ sich Kurschus im Übrigen ein Hintertürchen offen: In der SZ sei "von einem Gespräch im Garten" die Rede gewesen. "Ich prüfe mich intensiv: Hab ich was überhört? Hab ich was übersehen? Gibt es da ein Missverständnis?" Die Antworten auf ihre eigenen Fragen ließ die EKD-Ratsvorsitzende offen. Nachfragen von Journalisten hatte die Leitung der Synode in Ulm nach Kurschus´ Statement nicht zugelassen.