Als die Sirenen heulen, verlangt Deutschlands Botschafter, der frühere Regierungssprecher Steffen Seibert, freundlich, aber bestimmt, den Anweisungen zu folgen. Im sechsten Stock gibt es für den Kanzler einen betonierten Unterschlupf. Ein anderer Teil der Delegation kommt im Treppenhaus zum Erdgeschoss unter. Zwei junge Frauen sind dabei, die verloren wirken. Sie halten große Fotos von zwei kleinen Mädchen in den Händen. Auch die beiden Kinder sind in den Händen der Terroristen. Dieses Bild ist weitaus schlimmer als der Luftalarm.
Seibert genießt bei den Familien, die schreckliche Angst um ihre Liebsten haben, hohe Anerkennung und Vertrauen. Sie können ihn auch nachts anrufen, wenn sie die Situation nicht mehr aushalten, er versuche dann, sie zu trösten, wird anschließend erzählt. Nun hoffen sie, dass Scholz etwas ausrichten kann bei Mittelsleuten zur Hamas. Oder in arabischen Ländern. Oder bei irgendjemandem, der Einfluss auf die brutalen Kidnapper nehmen könnte.
Seibert bringt Scholz und seinen Tross zum Flughafen Ben Gurion und sagt Journalisten zum Abschied, es sei immerhin nicht zu einem Raketenalarm gekommen, bei dem alle aus dem Auto springen und sich auf den Boden legen musste. Das stimmt. Minuten später müssen aber alle aus dem Flugzeug springen. Die Sirenen heulen wieder, Crew-Mitglieder rufen laut: "Raus, raus, raus!" Einer mahnt: "Auf den Boden!"
Schnell legen sich die Delegationsmitglieder auf das Rollfeld vor dem Flugzeug. Das ist voll betankt. Ein Treffer könnte den Flieger in die Luft sprengen. Im Nachhinein ist vielen bewusst, dass sie noch viel zu nah am Flieger waren. Auch der erste Zufluchtsort für einige der Gäste aus Deutschland ist keine gute Idee: an und unter Polizeifahrzeugen. Auch sie haben Benzin im Tank. Einer ruft: "Von den Autos weg!"
Schließlich liegt die deutsche Delegation auf dem Boden. Keiner rührt sich. Aber wo ist der Kanzler? Liegt er auch auf dem Rollfeld? Die Informationen gehen zunächst etwas durcheinander. Später ist klar, er wurde mit einem Auto zu einem nahegelegenen Schutzraum gebracht. Kurz darauf kracht es zweimal. Offenbar hat der Raketenabwehrschirm Iron Dome zwei Geschosse abgefangen. Scholz hat jedenfalls die Lichter gesehen.
Irgendwann gibt einer Entwarnung. Man sammelt seine Sachen wieder ein. Rucksack, Laptop, Jacke. Nur ihr Handy halten die meisten fest in der Hand. Die Medienleute geben Meldungen durch: "Scholz´ Delegation muss Flugzeug verlassen". Wenig später gehen bei einigen besorgte Nachfragen von Familienmitgliedern und Freunden auf den Mobiltelefonen ein. Ja, alles in Ordnung. Für die Deutschen eine befremdliche Situation. Für Israelis, denen die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon und der Iran die Vernichtung wünschen, ein ganz normaler Tag.
In Kairo will Scholz am Mittwoch mit Präsident Abdel Fattah al-Sisi sprechen. Ägypten ist das einzige arabische Nachbarland Israels, das an den Gazastreifen grenzt. Aber Ägypten will genauso wenig wie Israels Nachbarland Jordanien Flüchtlinge aufnehmen, die vor den israelischen Bombardements fliehen. Mit al-Sisi will Scholz darüber reden, wie die etwa 200 Geiseln der Hamas befreit werden können - darunter mehrere Deutsche. Kairo hat Kontakte zur Hamas.
Das vorherrschende Thema dürfte aber zunächst dies sein: Am Dienstag wurden in einem Krankenhaus im Gazastreifen nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums durch einen Einschlag Hunderte Menschen getötet und verletzt. Palästinensischen Angaben zufolge ging dieser von israelischen Bombardements aus. Israels Militär machte den Islamischen Dschihad im Gazastreifen verantwortlich. Informationen deuteten demnach auf einen fehlgeschlagenen Raketenabschuss der militanten Palästinenserorganisation hin, hieß es. In mehreren muslimisch geprägten Ländern kam es zu spontanen Protesten. Mehrere Staaten kündigten Trauertage für die Opfer an.
Scholz ist auch nach Israel und Ägypten gereist, um einen Flächenbrand zu verhindern. Sein Gespräch in Kairo wurde mit höchster Spannung erwartet.