Von den 1,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern Lettlands sind etwa 25 Prozent russischer Herkunft, die meisten noch aus Sowjetzeiten. Viele Russinnen und Russen in dem heutigen EU- und Nato-Mitgliedsland sind aber nicht lettische Staatsbürger, sondern haben einen Status als sogenannte Nichtbürger. Außerdem gibt noch Russen mit russischem Pass, die unter anderem von Moskau Rente erhalten und für die sich Putin ohnehin zuständig fühlt.
Für "Nichtbürger" hat Lettland 2023 per Gesetz Sprachtests für alltagstaugliches Lettisch eingeführt. Im schlimmsten Fall droht der Entzug der Aufenthaltserlaubnis. Lettlands Botschafterin in Berlin, Alda Vanaga, sagt dazu: "Ich denke, es ist nicht zu viel verlangt, wenn jemand über 30 Jahre in einem Land lebt und alle Vorzüge genießt, dass er irgendwann auch einmal die Sprache beherrschen sollte." Für die russischsprachigen Minderheiten in Estland (27 Prozent) und Lettland beansprucht der Kreml eine Schutzherrschaft, und die dort lebenden Russinnen und Russen selbst stehen nicht selten Moskaus Sichtweise näher, als der Politik des Landes, dessen Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltsrecht sie besitzen.
"Die Risse gehen bei uns quer durch viele russische Familien", berichtet Maris Hellrand, Publizistin aus Tallin. Söhne und Töchter könnten nicht mehr vernünftig mit ihren Vätern sprechen, Großmütter verstünden ihre Enkel nicht mehr. Auf die Dauerbeschallung durch russisches Propagandafernsehen seit Beginn des Ukraine-Krieges haben die baltischen Länder mit der Herausnahme von Moskaus TV-Sendern aus den Kabelprogrammen reagiert. Aber über das Internet ist alles weiter empfangbar.
Die Affinität der russischsprachigen Minderheiten zum russischen Fernsehen und zu Russland selbst ist groß, jedoch stellen die Russen in den baltischen Ländern deshalb in ihrer Sichtweise keine "monolithische Bevölkerungsgruppe" dar, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt.
So gibt etwa jeweils die Hälfte der in Estland und Lettland lebenden Russen an, beim Krieg in der Ukraine mit keiner Seite zu sympathisieren. Laut Umfrage ergreift etwa ein Viertel Partei für die Ukraine, auf der Seite Russlands stehen zwischen 14 (Lettland) und 17 Prozent (Estland). Zwischen 40 und 50 Prozent in beiden Ländern sagen, dass sie zwar Russland mögen, nicht aber Putins Politik. Antiwestliche Narrative der Kremlpropaganda, die dem Westen die Schuld am Ukraine-Krieg geben, stoßen bei etwa 40 Prozent auf Zustimmung.
Auch Botschafterin Vanaga sieht die russische Minderheit in Lettland nicht als "monolithische Gruppe", von der eine große Gefahr ausgeht. Für sie ist wichtig, dass die deutsche "Zeitenwende" sich mit mehr Unterstützung für die Ukraine und mit mehr deutscher Präsenz im Baltikum niederschlägt.
Deutschland will 2024 als erster westlicher Nato-Partner eine ganze "robuste Brigade" – 4000 Männer und Frauen der Bundeswehr – fest in Litauen stationieren und so dem Sicherheitsbedürfnis des Baltikums entsprechen.
"Je mehr Nato-Soldaten bei uns stationiert sind, um so sicherer fühlen wir uns", sagt der litauische Politikwissenschaftler Vytautas Jankauskas. Die Rolle des Baltikums als Ostflanke im westlichen Bündnis sei nicht neu, aber seit Russlands Überfall auf die Ukraine höre man im Westen mehr darauf, was die Balten zu sagen hätten.
Jankauskas ist überzeugt, dass Russland nie aufgehört hat, eine "existenzielle Bedrohung" für die drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen zu sein, seit diese zu Beginn der 1990er-Jahre ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärten, zu der sie zwangsweise 50 Jahre lang gehört hatten. "Uns wurde lange Zeit vorgeworfen, von der russischen Frage besessen zu sein", erläutert Jankauskas, "und der Georgien-Krieg 2008 sowie die Krim-Annexion 2014 haben als Argumente nicht gereicht. Es musste erst eine volle Invasion in der Ukraine stattfinden, bis man unsere Warnungen vor der Aggressivität Russlands ernst genommen hat."
Aus der Perspektive der baltischen Länder hatte es in Bezug auf Moskau wohl zu keiner Zeit unterschiedliche Auffassungen gegeben. Aber als neue "Frontstaaten" im Osten mit direkten Grenzen zu Russland kommt den drei Nato-Mitgliedsländern plötzlich eine ganz neue Bedeutung zu. Die Journalistin Maris Hellrand macht das auch an der Nachfrage nach baltischen Politikern in der internationalen Presse fest. "So lang, wie die Warteliste für Interviewanfragen aus aller Welt bei der estnischen Premierministerin heute ist, das hat es vorher nie gegeben", sagt Hellrand.
Sie hat im abgelaufenen Jahr beobachtet, dass gerade deutsche Journalisten häufig versucht hätten, Kaja Kallas dazu zu bewegen, sich kritisch gegenüber der deutschen Politik zu äußern, aber sie habe sich "immer sehr beherrscht".
Die baltische Außenpolitik ist bemüht, von außen keinen Keil in die Nato-Partnerschaft treiben zu lassen, auch wenn man zu Beginn des Ukraine-Krieges verschiedene Vorgänge mit Kopfschütteln beobachtete, wie etwa die legendäre Lieferung von 5000 Schutzhelmen an die Ukraine unter der damaligen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD). "Die Kritik an Deutschland hat in unseren Ländern abgenommen", sagt Politologe Jankauskas, fügt aber hinzu, dass man von der Bundesrepublik eine größere Führungsrolle innerhalb Europas erwartet.
Als es in Deutschland noch um die 5000 Helme ging, schickten Lettland und Litauen bereits Flugabwehrraketen vom Typ Stinger nach Kiew. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind die drei baltischen Länder laut Kieler Institut für Weltwirtschaft mit Leistungen jeweils um die 1-Prozent-Marke die größten Unterstützer der Ukraine. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass die Sorge vor Russlands Expansions- und Revanchegelüsten größer geworden ist.
"Als der Ukraine-Krieg begann, haben wir uns in den Familien getroffen und beraten, was wir machen, wenn die Russen auch bei uns einmarschieren", berichtet Jankauskas. Diese unmittelbare Gefahr sei jetzt gebannt, aber Russland würde nach wie vor ständig die "Grenzen und auch den Luftraum testen". Auch Botschafterin Vanaga, ist ziemlich sicher, dass Russland in den nächsten Jahren nicht in der Lage sein wird, "uns militärisch anzugreifen". "Aber Moskau testet ständig unsere Widerstandsfähigkeit mit hybriden Attacken", sagt die Diplomatin.
Und die Menschen im Baltikum seien nach wie vor sehr besorgt, denn "der Krieg ist einfach sehr nah". Das hat auch Reinhard Krumm beobachtet, der das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung für die baltischen Staaten in Riga leitet: "Für uns in Deutschland ist das ein großer Krieg, die Menschen im Baltikum sagen: Das ist unser Krieg." Es gebe das Gefühl, dass noch mehr passieren könne, wenn die Ukraine nicht erfolgreich aus dem Konflikt herauskommt.