Der frühere russische Geheimdienstoffizier und prominente Militärblogger Igor Girkin, genannt Strelkow, schrieb am Donnerstag, dass sich Prigoschin "allem Anschein nach" in seiner Heimatstadt St. Petersburg aufhalte. Dort ist auch der Sitz des Firmenimperiums. Von dort steuerte der 62-Jährige auch seine prorussischen und antiwestlichen Desinformationskampagnen im Internet. Die ISW-Experten betonten, es gebe keine gesicherten Belege dafür, dass Prigoschin Belarus wieder verlassen habe, um weiterzuverhandeln, aber dies sei möglich. Zugleich wiesen sie auf zahlreiche Berichte von Bloggern hin, nach denen Prigoschin für seine Truppen in Belarus neue Feldlager einrichten lasse.
Machthaber Alexander Lukaschenko in Minsk hatte in dem am Samstag beendeten Aufstand vermittelt und dann am Montag bestätigt, dass der Wagner-Chef in Belarus sei. Kremlchef Wladimir Putin hatte die Wagner-Aufständischen als "Verräter" bezeichnet, ihnen dann aber angeboten, nach Belarus zu gehen. Zugleich bot er kremltreuen Kämpfern an, einen Vertrag mit dem Militär zu unterzeichnen. Putin teilte auch mit, dass die Wagner-Armee komplett vom russischen Staat finanziert gewesen sei. Dabei hatte er noch im Februar 2022 erklärt, der russische Staat habe nichts mit der Truppe zu tun. Prigoschins Konzern Concord verdiente nach Darstellung Putins Milliarden etwa mit der Essensversorgung der russischen Streitkräfte. Der Kreml will Prigoschins Geschäfte nun prüfen lassen.
Die Moral der russischen Streitkräfte in der Ukraine dürfte nach Ansicht britischer Geheimdienstexperten durch den Abschuss von Hubschraubern und eines Flugzeuges während des Wagner-Aufstands geschwächt worden sein. Das ging aus dem Geheimdienstbericht des Verteidigungsministeriums in London zum Krieg in der Ukraine am Donnerstag hervor. "Kurzfristig wird der psychologische Schock, eine große Zahl an Crewmitgliedern auf diese Weise verloren zu haben, beinahe sicher die Moral der russischen Luftstreitkräfte schwächen", so die Mitteilung. Den Wagner-Söldnern wurde vom Kreml nach dem Aufstand Straffreiheit zugesagt.
Längerfristig könnte sich nach Ansicht der Briten insbesondere der Verlust eines als fliegendem Kommandostand genutzten Flugzeugs des Typs Il-22M negativ auf Russlands militärische Fähigkeiten auswirken. Demzufolge verfügte Moskau nur über bis zu zwölf Flugzeuge dieses Typs, die eine wichtige Rolle bei der Koordinierung von Aktivitäten im russischen Angriffskrieg in der Ukraine spielten. Deren Aufgaben müssten womöglich verringert werden, um sie besser zu schützen. Das werde wahrscheinlich Russlands militärische Fähigkeiten einschränken. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin hatte am Samstag zwischenzeitlich unter anderem die südrussische Stadt Rostow am Don besetzt und ließ seine Kämpfer dann Richtung Moskau marschieren. Berichten zufolge schossen sie dabei mehrere russische Kampfhubschrauber und das Flugzeug vom Typ Il-22M ab.
Wegen der geplanten Verlegung russischer Wagner-Söldner ins Nachbarland Belarus will Polen unterdessen seine Ostgrenze noch stärker sichern. Geplant sei sowohl eine Aufstockung der dort stationierten uniformierten Kräfte als auch eine Erhöhung der Anzahl "verschiedener Arten von Hindernissen und Befestigungen zum Schutz unserer Grenze im Falle eines Angriffs", sagte Vize-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski am Mittwochabend nach einer Sondersitzung eines Komitees der Regierung für Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Nach Angaben Kaczynskis hat Polen Erkenntnisse, wonach bis zu 8000 Wagner-Kämpfer in Belarus unterkommen könnten.
Das EU- und Nato-Mitglied Polen hat eine 418 Kilometer lange Grenze zu Belarus. Im Spätsommer und Herbst 2021 war die Situation dort eskaliert: Tausende Menschen versuchten, illegal in die EU zu gelangen. Die Europäische Union beschuldigt den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, in organisierter Form Migranten aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze gebracht zu haben, um Druck auf den Westen auszuüben. Polen hat die Landabschnitte der Grenze seitdem mit einem 5,5 Meter hohen Zaun gesichert.
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