Der Konflikt um Taiwan verschärft sich. Nach der russischen Invasion in der Ukraine wächst die Sorge vor einem weiteren großen Krieg, in dem diesmal die zwei Atommächte China und USA direkt aufeinanderstoßen könnten. Diplomaten in Peking fürchten, dass es eher früher als später dazu kommen könnte. Hohe US-Militärs sehen einen Angriff Chinas auf die Insel 130 Kilometer vor dem chinesischen Festland bislang noch als viel zu riskant für Peking an. Doch wie China, die USA und Taiwan seit Jahrzehnten mit ihren Differenzen umgehen, passt immer weniger zur Realität - das Risiko für eine Konfrontation zwischen den großen Mächten steigt.
"Beide Länder befinden sich in einem eskalierenden Schlagabtausch von provokativen militärischen und diplomatischen Aktionen rund um Taiwan - und in beiden Hauptstädten wächst das Gefühl, dass ein Krieg um Taiwan unvermeidlich sein könnte", warnte etwa das Politik-Magazin "The Nation". Das Pentagon geht davon aus, dass China weiterhin den militärischen Druck erhöhen werde, um Taiwan zur Wiedervereinigung zu zwingen.
Der schwelende Streit um die kleine Inselrepublik hat sich gefährlich hochgeschaukelt. Seitdem US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi als höchstrangigste Amerikanerin seit Jahrzehnten im August nach Taiwan reiste, hält China mit Flugzeugen und Kriegsschiffen seinen Druck aufrecht. US-Präsident Joe Biden sagte im Falle eines chinesischen Angriffs militärische Unterstützung auch durch US-Truppen zu.
Eigentlich galt hier bisher die sogenannte strategische Zweideutigkeit, mit denen die USA genau diese Frage offen lassen wollten. Um die Verwirrung perfekt zu machen, ruderte das Weiße Haus wieder zurück und versuchte, Bidens Aussagen einzufangen: An der China-Politik der USA habe sich nichts geändert.
Offenbar um die Gemüter abzukühlen, gab sich Biden jüngst überzeugt, dass die Drohgebärden Chinas zumindest nicht auf einen "unmittelbar bevorstehenden" Versuch zur Invasion Taiwans hindeuteten. Am Rande des G20-Gipfels auf der indonesischen Insel Bali traf sich der US-Präsident mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping. Es war das erste persönliche Treffen seit Bidens Amtsantritt vor knapp zwei Jahren. Die Beziehungen sind auf einem Tiefpunkt, auch wegen Taiwan.
Das Treffen brachte immerhin die Gespräche wieder in Gang. Als erster soll US-Außenminister Antony Blinken das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Er will Anfang des Jahres nach China reisen. Auch trafen sich US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und sein Kollege Wei Fenghe am Rande des Asean-Gipfels in Kambodscha. Taiwan sei eine "rote Linie", warnte ihn der chinesische Top-General.
"Washington, Taipeh und Peking müssen einen neuen Weg der Koexistenz finden, bei dem die jeweiligen grundlegenden Interessen gewahrt bleiben, aber weitergehende Bestrebungen gebremst werden können", schrieb der Taiwan-Experte Michael Mazza im Magazin "Foreign Policy". Auf diesem Weg werde es "Provokationen" und einige "haarsträubende Momente" geben. Doch müssten US-Politiker dabei darauf verzichten, die Beziehungen dafür zu nutzen, Peking zu knüppeln und dem Drang widerstehen, Xi Jinpings Ansehen im eigenen Land zu untergraben.
Unbeirrt beschwört China die "Ein-China-Politik". Nach dieser Doktrin gibt es nur ein China, und Peking ist die einzig legitime Regierung. Taiwan agiert längst unabhängig, erfüllt völkerrechtlich alle Voraussetzungen als eigene Nation. Doch Peking würde nach eigenem Bekunden eine formelle Abspaltung zum Anlass nehmen, um zu "nicht friedlichen Mitteln" zu greifen. Das Gleiche gilt, wenn alle friedlichen Möglichkeiten zur "Wiedervereinigung" ausgeschöpft seien. Zu diesen Schlüssen könnte Chinas Führung jederzeit kommen.
Die "Ein-China-Politik" habe ausgedient, sie sei ein Produkt des Kalten Krieges, ist Mazza überzeugt. "Wenn nicht alle drei Parteien akzeptieren, dass eine neue Regelung sowohl notwendig als auch durchführbar ist, kann es zur Katastrophe kommen."
Als Grundlage für eine Annäherung diente Taiwan und China lange der vage "Konsens von 1992". Er bot Spielraum, weil beide Seiten damit anerkannten, dass es nur ein China gibt, aber akzeptieren, dass sie verschiedene Vorstellungen davon haben. Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen will davon aber nichts mehr wissen - auch weil es altes, chinesisches Denken repräsentiert.
Jede gewählte Regierung in Taipeh muss Rücksicht darauf nehmen, dass die 23 Millionen Taiwaner heute eine andere Identität haben. Nur noch 2,4 Prozent sehen sich als Chinesen. Zwei Drittel fühlen sich als Taiwaner. Weniger als 7 Prozent wollen überhaupt eine "Vereinigung" (1994: 20 Prozent).
Aus Pekings Sicht wäre ein Verzicht auf die Insel eine Gefahr, denn dann wäre es durch die Inselketten US-Verbündeter vollends umzingelt. Mit einer erfolgreichen Invasion könnte die aufstrebende Großmacht China sich das Tor zum Pazifik öffnen und die USA herausfordern.
Schon lange haben die USA die Insel mit Waffen versorgt. Bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen 1979 zu China verpflichteten sich die USA mit einem eigenen Gesetz, für Taiwans Verteidigung zu sorgen. Der "Taiwan Relations Act" sichert zu, dass die USA "immer an der Seite Taiwans stehen". Eine gewaltsame Einnahme würde die Region destabilisieren und dem ähneln, was in der Ukraine passiert sei, begründete Biden nun auch seine Zusage zu militärischer Hilfe.
Zumindest öffentlich sieht das US-Militär es als unwahrscheinlich an, dass China in absehbarer Zeit Fakten schafft. US-Stabschef Mark Milley hält eine Invasion der hoch gerüsteten, dicht bevölkerten und bergigen Insel für eine "sehr schwierige Operation". Dafür ist die - nicht kampferprobte - Volksbefreiungsarmee aus seiner Sicht nicht vorbereitet: "Ich denke, es wird einige Zeit dauern, bis die Chinesen die militärischen Fähigkeiten haben und bereit sind, es zu tun."
Wenn Xi Jinping Kosten, Nutzen und Risiken abwäge, würde er zu dem Schluss kommen, dass ein Angriff auf Taiwan "ein übermäßiges Risiko" darstellen und in einem "Debakel für Chinas Militär" enden würde, sagte Milley. "Es würde ihren chinesischen Traum umwerfen, die Nummer eins als militärische und wirtschaftliche Macht zu sein." Ein geopolitischer und strategischer Fehler - ähnlich wie der, den Russlands Präsident Wladimir Putin begangen habe, sagte Milley: "Es gibt viele Lektionen aus dem Krieg in der Ukraine zu lernen."
agenturen/pclmedia