Eine Stunde zuvor haben die beiden Politiker ein Migrationsabkommen unterzeichnet und anschließend in einem kleinen Raum eine Pressekonferenz gegeben, bei der georgische und deutsche Journalisten jeweils zwei Fragen stellen können. Ziel des Abkommens ist es, "irreguläre Migration zu reduzieren, die freiwillige Rückkehr und Reintegration zu fördern und gezielte reguläre Migration im gegenseitigen Interesse zu stärken".
Gomelauri freut sich. Er freut sich in erster Linie darüber, dass Georgien seit dem EU-Gipfel am vorigen Donnerstag Beitrittskandidat zur Europäischen Union ist und wegen des Migrationsabkommens jetzt die Möglichkeit bestehe, "dass georgische Staatsangehörige legal eine Beschäftigungsmöglichkeit bekommen" – in Deutschland. Zwar erklärt sich der georgische Innenminister bereit, bei Rückführungen eigener Asylbewerber zu kooperieren. Das geschieht sowieso längst. Es sei im Übrigen aber "eine Lüge, dass alle Georgier Deutschland sofort verlassen müssen", sagt er.
Faeser setzt die Akzente anders. Sie gratuliert "sehr herzlich zum Kandidatenstatus" und sagt, dass georgische Saisonarbeiter fortan "bessere Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt bekommen können". Auch im Bereich Bildung werde man enger kooperieren. Die deutsche Innenministerin will die Georgier nicht in ihrem Stolz verletzen. Sie hebt freilich hervor, dass die Anerkennungsquote von Asylbewerbern aus dem Land bei uns lediglich 0,3 Prozent betrage. Deshalb müsse sich an der Zahl der Anträge etwas ändern.
Tatsächlich stellten von Januar bis November mehr als 8000 Georgier in Deutschland einen Erstantrag auf Asyl; das ist Platz sechs im Ranking der Herkunftsländer, und es sind mehr als im Vorjahr. Die Anträge werden zwar so gut wie nie anerkannt, die Georgier kommen aber dennoch, weil sie ohne Visum in den Schengen-Raum einreisen dürfen. Dem will die Bundesregierung nun einen doppelten Riegel vorschieben.
Erstens erklärten Bundestag und Bundesrat Georgien wie auch Moldau soeben zu sicheren Herkunftsstaaten. Das erhöht die Hürde für Menschen aus dem Kaukasus, als Asylbewerber anerkannt zu werden, weiter und reduziert die rechtlichen Möglichkeiten Betroffener, sich dagegen zu wehren. Die Verfahren sollen so beschleunigt werden, dass sich die Reise und ein Antrag schlicht nicht mehr lohnen. Der zweite Riegel ist das am Dienstag geschlossene Migrationsabkommen. Beides zusammen ist wiederum ein Mosaikstein, um die Zahl der nach Deutschland strebenden Flüchtlinge insgesamt zu senken.
Als Faeser im Dezember 2021 zur Bundesinnenministerin berufen wird, ist die Lage noch ganz anders. Streit über die Flüchtlingspolitik gibt es praktisch nicht mehr, weil die Zahl der Flüchtlinge nach 2015 kontinuierlich zurückgegangen ist. Selbst die AfD kann kaum noch Honig aus dem Thema saugen. Zwei Monate später passiert das lange Unvorstellbare: Russland greift die Ukraine an. Nach wenigen Tagen treffen die ersten Kriegsflüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof ein. Die SPD-Politikerin eilt zur polnisch-ukrainischen Grenze, um sich dort ein Bild der Lage zu machen. Daheim guckt sie sich Notunterkünfte an. Schließlich einigt sich Faeser mit der grünen Außenministerin Annalena Baerbock auf ein Aufnahmeprogramm für gefährdete Menschen aus Afghanistan. Die Türen stehen offen. Noch. CDU und CSU klagen hingegen schon damals, dass das so nicht gehe.
Im Juni geht es los mit dem von den EU-Innenministern vereinbarten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS). Es sieht Asylverfahren für Bewerber mit geringer Bleibeperspektive an den EU-Außengrenzen vor. Eine ergänzende Krisenverordnung besagt, dass im Fall eines großen Andrangs auch andere Flüchtlinge womöglich monatelang in Lagern festgehalten werden können. Die Innenministerin muss sich im Juni allerlei Kritik anhören. Die damalige Juso-Chefin Jessica Rosenthal sagt: "Wir verurteilen aufs Schärfste, dass man sich auf Haftlager an den Außengrenzen geeinigt hat und damit eine Festung Europa Realität werden lässt." Das sei "beschämend". Aber Nancy Faeser und Annalena Baerbock ziehen die Sache wieder gemeinsam durch.
Das zweite Instrument in Faesers Flüchtlingspolitik sind Grenzkontrollen – nicht allein an der Grenze zu Österreich, sondern seit Oktober auch an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz. Ausgerechnet bei der zuständigen Bundespolizei sind diese Kontrollen nicht so beliebt. Die Ordnungshüter zweifeln an der Wirksamkeit. Doch im Ministerium kommen sie mittlerweile zu anderen Schlüssen. Ja, Faeser hat die Kontrollen zunächst bis Mitte März verlängert. Und das muss noch nicht das Ende sein.
Ebenfalls im Oktober billigt das Kabinett Faesers Gesetzentwurf über die Erleichterung von Abschiebungen. Der Ausreisegewahrsam wird von zehn auf maximal 28 Tage ausgedehnt. Auch sollen Polizisten auf der Suche nach Betroffenen in Sammelunterkünften nicht bloß deren Räume durchsuchen dürfen, sondern darüber hinaus die Räume anderer Bewohner. Der Deutsche Anwaltverein sieht Grundrechte berührt. Die Kirchen warnen, das Gesetz werde die Angst unter den teils ohnehin schon traumatisierten Flüchtlingen zusätzlich steigern. Trotzdem dürfte der Gesetzentwurf, der noch im Parlament festhängt, zu Jahresbeginn verabschiedet werden.
Unterdessen hat die Zahl der Abschiebungen in diesem Jahr bereits deutlich zugenommen, um 27 Prozent nämlich. Mittlerweile wird auch in den Irak verstärkt abgeschoben, einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" zufolge aufgrund einer schon im Mai mit den Verantwortlichen in Bagdad geschlossenen Vereinbarung. Das Land galt in dieser Hinsicht lange als tabu, gilt mittlerweile aber als sicher – selbst für einst vom "Islamischen Staat" (IS) verfolgte Jesidinnen und Jesiden. Sprechen tun sie darüber in der Bundesregierung indes ungern. Womit wir wieder bei den Migrations- beziehungsweise Rückführungsabkommen wären, dem vorläufig letzten Handwerkszeug aus dem Instrumentenkasten der neuen deutschen Flüchtlingspolitik – und damit wieder in der schönen Stadt Tiflis.
Auf der Reise dorthin ist neben der Bundesinnenministerin auch der dafür zuständige Beauftragte ihres Hauses mit von der Partie: Joachim Stamp von der FDP. Er soll die Abkommen erarbeiten. Das wiederum ist, siehe Irak, eine heikle Aufgabe. Mit manchen Ländern ist es so schwierig, dass Verhandlungen auf der Stelle zu Ende wären, wenn sie publik würden. So sagen es zumindest die Offiziellen. Mit anderen Ländern ist es kompliziert, weil sie nicht ohne Weiteres willens sind, Flüchtlinge zurückzunehmen – oder Gegenleistungen verlangen, die Deutschland kaum gewähren kann.
Gemessen daran ist die Sache mit Georgien ausgesprochen einfach. Das Land mit seinen 3,7 Millionen Einwohnern an der Grenze zu Russland wird im Ganzen demokratisch regiert. Politische Gefangene gibt es nicht. Schwule, Lesben und trans Menschen haben es schwer, das stimmt. Die Diskriminierung gehe aber nicht vom Staat aus, sondern von der einflussreichen orthodoxen Kirche und bisweilen von rechtsextremen Kreisen, heißt es in der Hauptstadt. Ferner ist in dem Migrationsabkommen ein Passus enthalten, wonach Deutschland und Georgien die "Notwendigkeit" unterstreichen, "vulnerable Personengruppen, die von gesellschaftlicher Diskriminierung bedroht sind, zu schützen".
Dass so viele Georgierinnen und Georgier in Deutschland um Asyl bitten, hat nicht zuletzt mit dem ökonomischen Gefälle zu tun. Denn vom Wachstum der georgischen Wirtschaft profitieren nicht alle. Die Einkommen sind deutlich geringer als in Deutschland, und über 20 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos, unter den jungen Erwachsenen erreicht die Quote sogar fast 40 Prozent. Manche Georgier kommen in die Bundesrepublik, weil die medizinische Versorgung hier besser ist – wobei Innenminister Gomelauri darauf hinweist, dass man sich in Georgien "mit den gleichen Mitteln" behandeln lassen könne. Manche kommen, um Straftaten zu begehen.
Sicher ist: Georgien, das seit Beginn des Ukraine-Krieges seinerseits rund 100.000 Russen aufnahm, zeigt sich kooperativ. Und die deutsche Seite hat zwei im Migrationsabkommen erwähnte Hebel in der Hand: "Die Visumfreiheit der Staatsangehörigen Georgiens für den Schengen-Raum und die Perspektive Georgiens, der Europäischen Union beizutreten". Auf beide Trümpfe will Georgien nicht verzichten.
Unter diesen Voraussetzungen ergibt sich "eine Win-win-Situation", wie es eine Mitreisende nennt. Die Georgier machen Zugeständnisse bei der Rücknahme von Flüchtlingen und sind nicht abgeneigt, ihre eigenen Landsleute über geringe Erfolgsaussichten von Asylanträgen in Deutschland zu informieren. Die Deutschen demonstrieren die Bereitschaft, Saisonarbeiter ins Land zu lassen und im Bildungssektor zusammenzuwirken.
Auf dem Rückflug von Tiflis ins knapp 3000 Kilometer entfernte Frankfurt ist die deutsche Innenministerin entsprechend guter Dinge. "Ich bin sehr zufrieden", sagt sie. "Wir haben ein gutes Migrationsabkommen unterzeichnet, das auf Augenhöhe geschlossen wurde." Das sieht ihr georgischer Kollege offenkundig ebenso. Er steht auf dem Rollfeld, als sich die Maschine in Bewegung setzt. Und er winkt freundlich dabei.