"Die Unternehmen müssen radikal ihre Angebote an Arbeits- und Lebensgestaltung ändern. Sie müssen um die Leute werben", meint Stefan Schaible aus dem Vorstand der Unternehmensberatung Roland Berger. "Wer als Arbeitgeber jetzt noch nicht verstanden hat, dass er in sein Personal investieren muss, hat massive Schwierigkeiten." Nach Daten der Unternehmensberatung Accenture wird der Höhepunkt der Beschäftigung mit fast 46 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland in diesem oder im kommenden Jahr erreicht sein. Danach scheiden mehr Menschen aus dem Erwerbsleben aus als neu reinkommen. "Der Talentpool wächst nicht mehr, wenn wir nicht Maßnahmen wie Einwanderung ergreifen", sagt die Accenture-Chefin für Deutschland, Österreich und die Schweiz, Christina Raab. Es werde in der nächsten Dekade konstant herausfordernd sein, genügend und ausreichend qualifizierte Mitarbeiter zu bekommen.
Die Folge: "Man stellt sich die Frage: Wie kann ich ein attraktiver Arbeitgeber sein? Wie kann ich flexible Arbeitsmodelle anbieten? Wie kann ich aber auch flache Hierarchien schaffen, mehr Entscheidungen und Gestaltungsfreiheit zum einzelnen Mitarbeiter bringen?" Das Umdenken, so meint Raab, muss schon im Bewerbungsprozess beginnen. "Suchen Sie nach Fähigkeiten - nicht nach Abschlüssen oder Zertifikaten", rät Accenture seinen Kunden. Gerade bei deutschen Arbeitgebern enthielten Stellenanzeigen noch sehr viele Qualifikationskriterien, die eigentlich vielversprechende Bewerber viel zu früh aussortierten. "Sie filtern sehr stark", kritisiert Raab. "Wir glauben, es reichen wenige Kriterien wie Lernwillen und Flexibilität, die Bewerber weniger abschrecken. Und dann investiert man in Aus- und Weiterbildung."
Zuletzt bot einer Studie von Accenture und der Universität Harvard zufolge nicht einmal jedes zweite Unternehmen Aus- und Weiterbildung an, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Die Unternehmensberater erwarten aber, dass Firmen künftig viel mehr Geld in Weiterbildung ihrer Mitarbeiter und auch das Erlernen völlig neuer Kompetenzen investieren. Auch die Bundesregierung will die Weiterbildung jetzt energisch voranbringen, Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will Deutschland gar zur "Weiterbildungsrepublik" machen und Beschäftigten eine einjährige Bildungszeit auch mit Millionensummen von der Bundesagentur für Arbeit finanzieren.
Mit Standard-Arbeitszeitmodellen kämen Firmen heutzutage nicht mehr durch, ist Schaible überzeugt. "Unternehmen müssen viel stärker die Biografiewünsche ihrer Mitarbeiter mitdenken", rät er. Das bedeutet Auszeiten und die Arbeit als digitale Nomaden - also aus dem Ausland für eine deutsche Firma - zu ermöglichen, aber auch längeres Arbeiten über das Rentenalter hinaus. "Messen Sie Ergebnisse - nicht Zeit", rät Accenture. "Wir müssen die Lebensarbeitszeit flexibler sehen: Nicht unbedingt als Fünf-Tage-Woche zwischen 20 und 60, sondern viel flexiblere Staffelungen über das gesamte Leben hinweg bis ins höhere Alter", sagt Raab. "Wir sollten rauskommen aus diesen Schablonen, die für alle gleich funktionieren müssen im Lebensablauf."
Wer einen neuen Job suche, treffe seine Entscheidung heutzutage oft überzeugungsgetrieben statt aus finanziellen Beweggründen, meint der Roland-Berger-Chef. "Wesentliche Faktoren sind, wie divers ein Unternehmen ist, wie international man arbeiten kann. Steht das Unternehmen wirklich für Nachhaltigkeitsthemen oder sind es reine Lippenbekenntnisse?" Raab hat beobachtet, dass junge Leute häufiger als früher nach dem Sinn ihrer Arbeit suchen. "Sie fragen ganz aktiv: Wo ist mein Wertbeitrag? Dann arbeiten sie unglaublich kreativ und mit ganz hohem Einsatz an der Lösung dieser Themen." Auch die Feedbackkultur müsse sich ändern: Jüngere Kollegen forderten unmittelbarere Rückmeldungen ein. "Sie sind Likes gewöhnt und bringen diese andere Mediennutzung, die andere Sozialisierung mit an den Arbeitsplatz."
Doch obwohl sich Unternehmen mehr und mehr um ihre Mitarbeiter bemühen müssen, zweifelt Chefökonomin Richardson an der Macht der Mitarbeiter. "Der Mythos des Arbeitnehmers mit mehr Macht löst sich auf, wenn man sich die Reallöhne ansieht", betont sie. Inflationsbereinigt seien die Löhne typischer Arbeitnehmer zuletzt in fast allen Ländern gesunken. "Das klingt für mich nicht nach einem Arbeiter, der das Sagen hat." Am unteren Ende der Gehaltsskala bleibe in vielen Ländern nicht genug Geld für das Existenzminimum. In den Städten, wo die Arbeit sei, sei zum Beispiel Wohnen zu teuer. Ihr Fazit: "Der Arbeiter sitzt nie auf dem Fahrersitz - aber er ist ein lautstarker Mitfahrer auf dem Rücksitz geworden, der dem Unternehmen sagt, wo es hingehen soll und wann er aussteigen will."
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