Nirgendwo war dieser Prozess der Rückbesinnung auf die Vergangenheit auf der Suche nach den richtigen Entscheidungen für die Zukunft seit der russischen Invasion schwieriger als in Deutschland. In den letzten 16 Monaten hat das Land seine starke Abhängigkeit von russischem Öl und Gas beendet, seine Zurückhaltung, Waffen in das Kriegsgebiet zu schicken, aufgegeben und ist nach den USA zu einem der wichtigsten militärischen und finanziellen Unterstützer der Ukraine geworden. Mittlerweile befürworten die meisten Deutschen diesen politischen Wandel – oder Zeitenwende, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es nennt –, doch die öffentliche Debatte über die Zukunft der deutschen Sicherheitspolitik hat nicht aufgehört. Und Auseinandersetzungen über die Geschichte spielen eine herausragende Rolle.
Die Brutalität der russischen Aggression gegen die Ukraine, Putins offensichtliche Missachtung des Völkerrechts und seine expliziten Drohungen gegen den Westen haben die politischen und intellektuellen Eliten Deutschlands dazu gezwungen, lang gehegte und weit verbreitete Annahmen über die Lehren für Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg und der Kälte zu überdenken Krieg. Die Bedeutung dieser Veränderung sollte nicht unterschätzt werden und es sollte niemanden überraschen, dass sie weiterhin prekär und umstritten ist.
In den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Kalten Krieges war die deutsche Politik in Mittel- und Osteuropa stark von einer Geschichtsauffassung geprägt, die Russland in den Mittelpunkt des deutschen Denkens über die Region stellte, während die kleineren Länder in seiner Nachbarschaft vernachlässigt wurden. Diese Moskau-zentrierte Tendenz spiegelte das Ausmaß der Macht Russlands wider, war aber zumindest teilweise auch darauf zurückzuführen, dass Deutschland seine historische Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg erkannte, der an seiner Ostfront ein brutaler Vernichtungskrieg war. Mehr als 25 Millionen sowjetische Soldaten und Zivilisten starben und sie spielen eine wichtige Rolle in der deutschen Erinnerungskultur.
Die Bereitschaft, sich ihrer historischen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg zu stellen und die Fokussierung auf Versöhnung und Erinnerung sind hart erkämpfte Errungenschaften der deutschen Demokratie, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollten. Problematisch blieb jedoch nach dem Kalten Krieg die weitverbreitete Tendenz Deutschlands, Russland mit der Sowjetunion gleichzusetzen, und die Argumentation von Politikern, dass die Verbrechen Nazi-Deutschlands eine besondere deutsche Verpflichtung auferlegten, den Dialog mit Russland zu suchen, ohne die gleiche Überlegung auf die Sowjetunion auszudehnen andere ehemalige Staaten der Sowjetunion, wie zum Beispiel die Ukraine. Immerhin waren rund 8 Millionen der sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkriegs Ukrainer, und auf dem ukrainischen Territorium kam es zu brutalen Kämpfen und unsäglichen Verbrechen, insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung. An differenzierter historischer Forschung hat es hierzu nicht gefehlt, doch erst jetzt, nach Putins Invasion, wird der wichtige Unterschied zwischen Russland und der Sowjetunion im öffentlichen Diskurs Deutschlands stärker gewürdigt.
Die Betonung der schrecklichen Kosten des Krieges mit der Sowjetunion zwischen 1941 und 1945 führte auch zu einem Mangel an deutscher Sensibilität gegenüber der deutsch-russischen Absprache von 1939 bis 1941 und ihren langfristigen Folgen. Bevor Hitler zwei Jahre später beschloss, die Sowjetunion anzugreifen, vereinbarten er und Stalin im Molotow-Ribbentrop-Nichtangriffspakt von 1939 die Aufteilung Mittel- und Osteuropas in nationalsozialistische und sowjetische Einflusssphären. Die Länder, die dafür mit brutaler Besatzung den Preis bezahlt haben,Deportation und Vertreibung verdienten in Deutschland nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ebenso besondere Berücksichtigung wie Russland. Die Erinnerung an diese Absprache hat bis heute das mittel- und osteuropäische Denken über beide Länder, insbesondere in Polen und den baltischen Staaten, tiefgreifend geprägt. Doch in den zwei Jahrzehnten vor dem Krieg in der Ukraine war ihr Standpunkt für Berlin weniger wichtig als der für Moskau.
Ein weiteres prägendes Kapitel in der deutschen Geschichte, das nun neu beleuchtet wird, ist die berühmte "Ostpolitik" des Bundeskanzlers Willy Brandt im Kalten Krieg. Dies blieb bis zum 24. Februar 2022 im Mittelpunkt der deutschen Überlegungen zu Russland. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren verfolgten Brandt und seine Sozialdemokratische Partei (SPD) eine Politik des Dialogs mit der Sowjetunion in der Hoffnung, die Beziehungen Westdeutschlands zu Osteuropa zu stabilisieren. 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war er davon überzeugt, dass eine Strategie des "Wandels durch Annäherung" die Ost-West-Spannungen verringern und möglicherweise sogar dazu beitragen würde, die Sowjetunion von innen heraus zu verändern. Die Annäherung umfasste auch den Handel mit der Sowjetunion.
Man muss nicht Mitglied der SPD sein, um stolz auf Brandt zu sein, wenn auch aus einem anderen Grund. Er ist vor allem dafür bekannt, dass er 1970 vor dem Denkmal für den Aufstand im Warschauer Ghetto niederkniete, eine beispiellose und äußerst wichtige Geste der Schande und Reue für die Kriegsverbrechen Deutschlands und den Holocaust. Es ist auch wichtig zu betonen, dass Brandt den Dialog mit der Sowjetunion aus einer Position der Stärke heraus anstrebte. Während seiner Amtszeit als Bundeskanzler lagen die Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik Deutschland bei 3 % des BIP pro Jahr, weit über dem, was in Deutschlands erster nationaler Sicherheitsstrategie vorgesehen ist, die am 14. Juni veröffentlicht wurde.
Doch die deutsche Russlandpolitik geriet nach dem Kalten Krieg ins Wanken, da weite Teile der SPD naiv am Prinzip "Wandel durch Handel" festhielten und sich selektiv an die Politik Brandts erinnerten oder diese umdeuteten. Jahrzehnte nach Brandt wird Gerhard Schröder beschuldigt, diese geschätzte und weithin idealisierte Tradition zu einem bequemen Vorwand gemacht zu haben, um deutschen Geschäftsinteressen in Russland Vorrang vor den geopolitischen Belangen der mittel- und osteuropäischen NATO- und EU-Verbündeten Deutschlands einzuräumen. In ihrem jüngsten Buch "Die Moskau Konnektion" berichten Reinhard Bingener und Markus Wehner präsentieren einen forensischen und vernichtenden Bericht darüber, wie Putins Russland jahrzehntelang sowohl die deutschen politischen Eliten als auch die öffentliche Meinung umworben hat, und zeigen, dass die Debatte über Deutschlands lange gehegte Russland-zentrierte Annahmen von wesentlicher Bedeutung ist.
Die Unterstützung Deutschlands für die Ukraine seit der Invasion stellt einen klaren Bruch mit seiner Russlandpolitik dar. Die Bundesregierung unter Kanzler Scholz hat ihre Brücken zu Putin abgebrochen und langjährige Prinzipien aufgegeben, die bis Februar 2022 bei vielen Deutschen Anklang gefunden hatten. Das war nicht einfach. Aber die entscheidende Frage ist nicht nur, ob die von Scholz versprochene Zeitenwende wirklich eintritt, sondern auch, warum es einen mörderischen Krieg in der Ukraine brauchte, um sie auszulösen.
Deutschland änderte seine Meinung gegenüber Russland, aber erst, als es zu spät war. Die notwendige und qualvolle Frage nach dem Warum fängt gerade erst an. Ein aus Sicht der Bundesregierung bedeutsamer, ja drastischer Wandel war in den Augen vieler Verbündeter längst überfällig und viel zu langsam. Die Kritik ist berechtigt. Es ist die Dringlichkeit der Lage in der Ukraine, die das Tempo der deutschen Reaktion auf diese katastrophale Krise der europäischen Sicherheit bestimmen sollte – nicht die eigene Selbstreflexion.
dp/bis/pcl/gu/fa