Erdogan hatte zwei Tage lang zu der schweren Krise zwischen dem Kassationsgerichtshof und dem Verfassungsgericht geschwiegen. Dann sagte er während eines Rückflugs aus Usbekistan zu türkischen Reportern: "Leider hat das Verfassungericht viele Fehler gemacht, einen nach dem anderen. Das macht uns wirklich traurig."
In der Auseinandersetzung der beiden Gerichte geht es um den Abgeordneten Can Atalay, der als Anwalt Teilnehmer der regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013 verteidigt hatte. Wegen "Beihilfe zum Umsturzversuch" war er zu 18 Jahren Haft verurteilt worden, hatte aber bei der Parlamentswahl im Mai ein Mandat für die linksgerichtete Arbeiterpartei (TIP) errungen. Er hatte vom Gefängis aus kandidiert.
Die Haftstrafe gegen Atalay war 2022 in einem Verfahren verhängt worden, in dem sieben weitere Regierungskritiker zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Unter ihnen war der Kulturförderer Osman Kavala, der eine lebenslange Hafstrafe erhielt.
Das Verfassungsgericht verfügte dann im Oktober unter Berufung auf Atalays Immunität als Abgeordneter die Freilassung des 47-Jährigen. Der Kassationsgerichtshof, der zuvor noch Atalays 18-jährige Hafstrafe bestätigt hatte, weigerte sich aber, die Entscheidung umzusetzen. Stattdessen stellte der Kassationsgerichtshof am Mittwoch Strafanzeige gegen die an der Entscheidung zu Atalay beteiligten Verfassungsrichter.
Erdogan unterstützte nun die Strafanzeige gegen die Verfassungsrichter. Die vom Berufungsgericht eingeleitete Strafverfolgung könne "nicht rückgängig gemacht oder ignoriert" werden, sagte er. Auch verteidigte der Präsident die Entscheidung, Atalay weiter in Haft zu belassen. Bis das Parlament dessen Immunität aufhebe, werde es noch dauern, argumentierte er. Käme Atalay aber bis dahin frei, könnte er sich ins Ausland absetzen, wie schon "viele Terroristen" vor ihm.
Der Staatschef fügte hinzu, der Streit innerhalb der Gerichtsbarkeit unterstreiche die Notwendigkeit einer Verfassungsreform. Für eine solche Reform hatte Erdogans konservativ-islamische Partei AKP bereits vor den Wahlen im Mai geworben.
In Ankara marschierten hunderte Anwälte am Freitag in ihren schwarzen Roben vom Justizpalast zum Sitz des Kassationsgerichtshofs, um das Verfassungsgericht zu verteidigen. Unter den Demonstranten war CHP-Chef Özel, der erst am Sonntag zum neuen Vorsitzenden der größten Oppositionspartei gewählt worden war.
Özel sagte, vor den Äußerungen Erdogans am Freitag habe es sich "um eine Krise der Gerichtsbarkeit" gehandelt. "Jetzt ist es ein offensichtlicher Versuch von Seiten Erdogans, die Verfassungsordnung zu eliminieren". Schon vor der Stellungnahme des Staatchefs hatte der CHP-Chef von einem "Putschversuch" durch das Berufungsgericht gesprochen.
Der Präsident der türkischen Anwaltskammer, Erinc Sagkan, sprach von einer "Staatskrise". Er hob hervor, dass laut der Verfassung "die Entscheidungen des Verfassungsgerichts bindend sind".
Die Krise verstärkt die Sorgen des Westens um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, eines wichtigen Mitglieds der Nato. Kritiker werfen dem islamisch-konservativen Präsidenten Erdogan vor, die Gerichte seit Jahren zunehmend mit Gefolgsleuten zu besetzen.