So paradox es klingt: Wahrscheinlich würden die meisten Amerikaner diese Warnung unterschreiben – bloß hätten sie dabei zwei völlig unterschiedliche Personen im Kopf: Donald Trump die einen und Joe Biden die anderen. So dramatisch hat sich der öffentliche Diskurs in den USA von den Fakten entfernt und so extrem ist die Polarisierung fortgeschritten, dass gegensätzliche Sichtweisen inzwischen kaum noch zu entwirren sind und Begriffen oft wechselnde oder gar konträre Inhalte zugesprochen werden: Dieselben Leute, die lautstark die Cancel Culture und das Diktat der linken Political Correctness an den Hochschulen anprangern, verbannen derweil unbequeme Bücher aus Schulbibliotheken.
Kaum irgendwo zeigt sich das Auseinanderdriften des Landes so dramatisch wie beim Kampf um die Freiheit. Die Freiheit gehört zur DNA der USA seit der Trennung der einstigen Kolonien vom britischen Mutterland. Eine "Freiheit, die die Welt erleuchtet", verspricht die monumentale Statue of Liberty den Ankommenden im New Yorker Hafen. Die Freiheit ist in der Verfassung festgeschrieben und verbindet sich bis in die Film- und Popkultur untrennbar mit dem Mythos des Riesenlandes. Doch eine Verständigung über ihre Bedeutung ist kaum noch möglich. "Es gibt nichts Wichtigeres als die persönliche Freiheit", leitete Präsident Biden vor einigen Monaten seine Bewerbung um eine Wiederwahl ein und warnte, die "Extremisten" der MAGA ("Make America Great Again")-Bewegung würden dieses Grundrecht bedrohen. "Sie wollen mir meine Freiheit nehmen, denn ich werde niemals zulassen, dass sie euch eure Freiheit nehmen", wütet hingegen Herausforderer Trump auf seiner Propagandaplattform "Truth Social".
In seinem Buch "Traum und Albtraum. Amerika und die vielen Gesichter der Freiheit" unternimmt der Journalist Julian Heißler den spannenden Versuch einer Zustandsbeschreibung der zerrissenen US-Gesellschaft entlang der um diesen universellen Wert brodelnden Konflikte von der Zuwanderung über Impfmandate und das Waffenrecht bis zur Außenpolitik, wo die einstige fragwürdige "Freedom Agenda" des ehemaligen Präsidenten George W. Bush bei den Republikanern nun ins andere Extrem des Isolationismus umzuschlagen droht.
Kenntnisreich und mit beachtlichem historischen Hintergrundwissen beleuchtet Heißler die einzelnen Schlachtfelder der aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzungen der USA. Doch bleibt er nicht in der trockenen Analyse stecken. Vielmehr belebt der Autor, der als Korrespondent der "Wirtschaftswoche" in Washington arbeitet, jedes Kapitel mit reportagehaften Schilderungen von Begegnungen während seiner häufigen Reisen im Land. So trifft er den konservativen Hardliner und Ex-Gouverneur des Bundesstaates Virginia, in dessen Amtszeit 24 Männer hingerichtet wurden, und kontrastiert ihn mit einer Bezirksstaatsanwältin in Kalifornien, die für Gewaltprävention und Rehabilitierung kämpft. Er nimmt die Leser mit auf einen Schießstand und lässt eine Ex-Schülerin, die das Schulmassaker von Parkland überlebt hat, von ihrem Trauma berichten. Er porträtiert einen Naturschützer in Idaho, der gegen den Phosphatabbau kämpft, und einen Rancher in Texas, der mit dem Klonen von Hirschen zu Reichtum gekommen ist.
Das vor dem Hintergrund des Palästina-Konflikts aktuellste und wohl spannendste Kapitel des Buches befasst sich mit der Meinungs- und Redefreiheit. Auf nicht einmal 30 Seiten schafft es Heißler mithilfe dreier hochinteressanter Protagonisten, die Problematik eindringlich auszubreiten. Er spricht mit Ira Glasser, dem langjährigen (jüdischen) Chef der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU), der 1977 das Demonstrationsrecht von Neonazis in einem Dorf mit zahlreichen Holocaust-Überlebenden verteidigte und auch als heute 85-Jähriger keine Einschränkungen des Rechts auf Meinungsäußerung akzeptieren will. Er schildert die Entwicklung des Regisseurs Brian Clowdus, der sich zu Unrecht wegen angeblich rassistischer Bemerkungen gecancelt fühlte und dann zum rechten Trump-Anhänger radikalisierte. Und er besucht die vielfach ausgezeichnete Romanautorin Ellen Hopkins, deren Bücher wegen ihrer ungeschönten Schilderung von Drogen undGewalt inzwischen aus vielen Bibliotheken in den USA verbannt sind.
Die Fülle der Zeitzeugen, die Heißler interviewt hat und in seinem Buch zu Wort kommen lässt, ist beeindruckend. Allein in dem relativ kurzen Kapitel "Freie Welt" kommen mit James Jones, John Bolton, Chuck Hagel und Leon Panetta vier Toppolitiker zu Wort, die als Sicherheitsberater und Verteidigungsminister die Außenpolitik der USA entscheidend geprägt haben. Manchmal zwingt die schiere Menge der Protagonisten zur Verdichtung, und die Begegnungen können nur skizziert werden. Einige Themen wie der Abtreibungsstreit und die soziale Ungleichheit werden zudem relativ knapp abgehandelt. Aber das sind unvermeidliche Kompromisse, wenn man ein so weites Feld wie die Freiheit auf kaum mehr als 200 Seiten bestens lesbar vermessen will.
Heißler beendet sein faszinierendes Buch mit einem mutmachenden optimistischen Ausblick. Bislang hätten die Vereinigten Staaten in ihrer fast 250-jährigen Geschichte noch jede Krise überwunden, schreibt er. Trotz aller Probleme seien sie heute "ein offeneres, inklusiveres und – ja – freieres Land als vor 50 Jahren". Man kann nur hoffen, dass er diese Einschätzung in künftigen Auflagen nach dem Wahltag am 5. November 2024 nicht revidieren muss.