Die politische Haltung der Hisbollah hat eindeutig die palästinensischen Militanten unterstützt. Sie hat Kundgebungen zur Unterstützung palästinensischer Gruppen gesponsert und Israels groß angelegte Luftangriffe auf Gaza scharf verurteilt. Mehr als 1.200 Menschen wurden bei den Hamas-Angriffen auf Israel getötet, während seit Samstag mehr als 1.500 Menschen durch israelische Angriffe auf Gaza getötet wurden. Es ist jedoch noch unklar, ob sich die Hisbollah aktiv an diesem Konflikt beteiligen wird. Bisher hat es sich an seine aktuellen Einsatzregeln gehalten und wiederholt erklärt, dass es nur dann auf Israel schießen wird, wenn libanesisches Territorium oder seine Kämpfer beschossen werden. Daran ist man im Großen und Ganzen festgehalten, trotz der zunehmenden allgemeinen Spannungen.
Die Scharmützel hier können stattdessen als das leise Grollen der Schlagabtausche seit Beginn des Hamas-Israel-Krieges angesehen werden. Tagelang haben im Libanon stationierte palästinensische Militante Raketen auf Israel abgefeuert, was zu israelischen Angriffen auf libanesisches Territorium, einschließlich Stellungen der Hisbollah, führte. Die Hisbollah hat mit präzisionsgelenkten Raketen auf israelische Grenzpositionen zurückgeschossen. Bei dem fast einwöchigen Schusswechsel sind hier drei Hisbollah-Kämpfer und drei israelische Soldaten getötet worden. Die Hisbollah hat bisher nicht zugunsten der palästinensischen Militanten interveniert. Die Gruppe hat ihre Angriffe auf Israel ausdrücklich mit Israels Angriffen auf libanesisches Territorium in Verbindung gebracht, und die Kämpfe bleiben auf diese Grenzregion beschränkt.
Dennoch steht die Region weiterhin auf Messers Schneide. Mehrere Berichte deuten darauf hin, dass westliche Diplomaten versucht haben, die schiitische bewaffnete Gruppe aus dem entstehenden Konflikt herauszuhalten. Die USS Gerald R. Ford, ein atomar angetriebener Flugzeugträger, ist jetzt im östlichen Mittelmeer stationiert, was viele Analysten als einen Versuch der USA betrachten, diese Möglichkeit abzuwenden, die eine viel gewalttätigere Phase dieses Krieges einläuten könnte.
Im Gegensatz zur Hamas ist die Hisbollah eine Regionalmacht. Seit Jahren ist es an mehreren Konflikten im Nahen Osten beteiligt, unter anderem im Irak und in Syrien. Es wird auch angenommen, dass es Huthi-Rebellen im Jemen materiell unterstützt und ausgebildet hat. Seine Kämpfer sind kampferprobt, weil sie im Namen des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad gegen die bewaffneten Oppositionsgruppen Syriens sowie gegen ISIS und die Al-Qaida-nahe Nusra-Front gekämpft haben. Dadurch haben sie umfangreiche Erfahrungen in der städtischen Kriegsführung gesammelt.
Die Hisbollah verfügt außerdem über ein viel ausgefeilteres Arsenal als während ihres Krieges mit Israel im Jahr 2006, der ohne klaren Sieger oder Besiegten endete. Zu dieser Zeit waren viele Teile des Libanon zerstört, aber die Hisbollah vereitelte Israels endgültigen Plan, die Gruppe aufzulösen, und versetzte damit der Aura der Unbesiegbarkeit Israels einen Schlag. Damals kämpfte die Hisbollah hauptsächlich mit ungenauen Katjuscha-Raketen aus der Sowjetzeit. Heutzutage verfügt es über Präzisionslenkraketen.
Das Eingreifen der Hisbollah könnte nicht nur möglicherweise hochentwickeltere Waffen und Kämpfer in den aktuellen Konflikt bringen, sondern auch andere Parteien anlocken. Die Hisbollah ist Teil einer Koalition von vom Iran unterstützten Kämpfern, die noch immer in Syrien stationiert sind. Ihre Beteiligung könnte möglicherweise eine dritte Front an der syrisch-israelischen Grenze eröffnen, diesmal neben den ebenfalls in Syrien präsenten Elite-Revolutionsgarden (IRGC) des Iran. Bis zum Ende des Hamas-Israel-Konflikts werden Diplomaten und Beobachter unterschiedlichster Couleur das Pulverfass hier weiterhin genau beobachten. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah ist seit Beginn der Feindseligkeiten im Süden auffällig ruhig geworden, was zu der seltsamen, relativ ruhigen, aber dennoch unglaublich angespannten Atmosphäre beiträgt.
Die Schiitenorganisation Hisbollah (Partei Gottes) entstand 1982 mit iranischer Unterstützung als Antwort auf die israelische Invasion im Libanon. Seitdem kämpft sie politisch, aber auch mit Gewalt gegen Israel. Der Bürgerkrieg, der den Libanon bis heute prägt, dauerte bis Anfang der Neunzigerjahre. Verheerende Anschläge und Entführungen während der Zeit gehen auf das Konto der Hisbollah.
Die Gruppe ist in dem multikonfessionellen Land am Mittelmeer auch im Parlament vertreten. Finanziert wird sie hauptsächlich aus Teheran. Die Hisbollah engagiert sich karitativ, besitzt aber auch einen militärischen Arm, dem nach Schätzungen mehrere tausend Kämpfer angehören. Dieser wird von der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft, in Deutschland gilt seit 2020 ein Betätigungsverbot für die gesamte Hisbollah. Die Organisation kontrolliert vor allem den Süden an der Grenze zu Israel, von Schiiten bewohnten Viertel der Hauptstadt Beirut sowie die Bekaa-Ebene im Norden des Landes. Unter Generalsekretär Hassan Nasrallah hat sie in der Vergangenheit mit Unterstützung aus Teheran ihren Einfluss stetig ausgebaut.
Neben einer besseren Ausbildung ihrer Kämpfer verfügt die schiitische Organisation über ein großes Arsenal an Raketen und Kampfdrohnen. Nasrallah schmiedete in seiner Amtszeit Bündnisse mit Politikern verschiedener Lager, um seinen Einfluss auszubauen. An der Hisbollah gibt es im Libanon aber auch scharfe Kritik. Viele Libanesen waren etwa entsetzt über Anschuldigungen, die Hisbollah habe den ehemaligen Hoffnungsträger und Premierminister Rafik Hariri umgebracht. Kritiker sagen außerdem, die Gruppe zielt auf einen Wandel der westlich geprägten Identität vieler Libanesen.
Die Ruhe am Donnerstag an der libanesisch-israelischen Grenze – gelegentlich unterbrochen durch das Abfangen von Raketen palästinensischer Militanter durch Israel – wirft viele Fragen auf. Ist der Aufschwung hier nahezu zum Erliegen gekommen? Oder ist das die Ruhepause vor einem gewaltigen regionalen Sturm?