Was der ukrainische Präsident allerdings nicht verriet: Sie sprechen miteinander. Zwischen Kiew und Moskau gebe es seit Beginn des Krieges Gesprächskanäle, die nie unterbrochen wurden, wie die "Washington Post" berichtete. Natürlich geht es vordergründig um humanitäre Themen: den Austausch von Kriegsgefangenen und von Gefallenen zum Beispiel; zudem über die Durchfahrt von Schiffen aus den Schwarzmeerhäfen der Ukraine und zuletzt die Rückkehr ukrainischer Kinder aus Russland.
Das erscheint zunächst wie etwas Selbstverständliches, ist es aber nicht. Keine der Seiten wirbt mit der Existenz dieser Geheimkanäle. "Es ist emotional sehr, sehr schwierig", sagte Dmytro Usov, ein ukrainischer Militärgeheimdienstmitarbeiter, der ein Koordinierungszentrum leitet, das die Verhandlungen über den Gefangenenaustausch überwacht, der "Washington Post".
"Sie sind unser Feind, aber wenn wir über den Verhandlungsprozess sprechen, muss dieser Interessenkonflikt überwunden werden", sagte Usov. "Wir verstehen, dass wir als Ukrainer, was auch immer passiert ist und welche Beziehungen wir jetzt haben, an der Rückkehr unserer Kämpfer interessiert sind. Wenn wir aber jeden Kommunikationskanal ablehnen, werden wir dazu nicht in der Lage sein."
Angesichts der Brutalität des russischen Vorgehens gab es zu Beginn des Krieges zunächst wenig Spielraum für Verhandlungen. Im März 2022 scheiterten mehrere Friedensgespräche, unter anderem des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett. Sie scheiterten mit dem Bekanntwerden der schrecklichen Morde von Butscha – von "Frieden" konnte vorerst keine Rede mehr sein.
Weiter gingen indes die Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen, die auf russischer Seite von einem Koordinierungszentrum des Verteidigungsministeriums geführt werden, zu dem auch der Inlandsgeheimdienst FSB gehört. Kiew hat ein großes Interesse daran, schnell möglichst viele Soldaten aus russischer Gefangenschaft herauszuholen, weil von den Vereinten Nationen dokumentierte Beweise vorliegen, dass sie systematischer Folter ausgesetzt sind.
Der Austausch der Kriegsgefangenen oder Toten findet hauptsächlich in der nordöstlichen Sumy-Region statt, dem einzigen Abschnitt der ukrainisch-russischen Grenze, an dem russische Streitkräfte nicht versuchen, vorzurücken. Dennoch kommt es beinahe täglich zu gegenseitigem Beschuss. Daher muss bei jedem Austausch vorab ein Waffenstillstand ausgehandelt werden.
Ungefähr zweimal im Monat würden Kühltransporter voller Leichen von russischen und ukrainischen Rettungskräften zur Grenze gefahren, sagt Oleh Kotenko, ein ukrainischer Beamter, der bis September für die Überführungen und die Suche nach vermissten Soldaten zuständig war.
Experten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) prüfen die Dokumente unter misstrauischer Beobachtung durch den russischen und den ukrainischen Sicherheitsdienst, sagte Kotenko. "Zeit, Ort und Anzahl der Leichen werden mit der russischen Seite vereinbart", sagt Kotenko. Die Kommunikationslinie sei vom IKRK im Sommer 2022 initiiert worden, sagte Kotenko.
Da gibt es ganz sicher auch weiterreichende Kontakte, die über all diese Themen hinausgehen und abklopfen, zu welchen Zugeständnissen die andere Seite im Fall eines Waffenstillstands bereit ist.
Erich Schmidt-Eenboom,
Dass es solche direkten Kontakte zwischen den verfeindeten Staaten gibt, hält der Geheimdienstexperte und Friedensforscher Erich Schmidt-Eenboom für wenig überraschend: "Da gibt es ganz sicher auch weiterreichende Kontakte, die über all diese Themen hinausgehen und abklopfen, zu welchen Zugeständnissen die andere Seite im Fall eines Waffenstillstands bereit ist. Historisch ist so etwas üblich gewesen. So beschreibt der amerikanische Autor Milton Bearden sehr detailliert, welche Standleitungen es zum Beispiel in der Hochphase des Afghanistan-Krieges zwischen Moskau und Washington gab", sagte er.
Auch das Leugnen solcher Gesprächskanäle hält Schmidt-Eenboom für ein bekanntes Phänomen: "Einerseits möchte man diese Kanäle nicht gefährden, andererseits möchte man diese offen halten, um eines Tages die ‚gewichtigeren Fragen‘ zu besprechen. Diese Kanäle zu schützen und notfalls zu vertuschen ist Aufgabe der Geheimdienste", so Schmidt-Eenboom.
Neben den direkten Kontakten gibt es auch Verbindungen über Drittstaaten wie die Türkei oder Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien oder den Vatikan. Vor allem die Türkei sei zum wichtigsten Ort geworden, um Verhandlungen zu beleben, die ins Stocken geraten sind. Es wurde als neutrales Territorium ausgewählt, nachdem die kurze Runde der Friedensgespräche in Belarus im März 2022 buchstäblich vergiftet wurde – mehrere Mitglieder der ukrainischen Delegation erkrankten damals auf mysteriöse Weise.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat es tatsächlich geschafft, sich als Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin durch seine Verurteilung der Invasion, ohne dabei gleichzeitig Moskau mit Sanktionen zu betrafen, zum Makler zwischen den Kriegsparteien aufzuschwingen. Gleichzeitig profitiert die türkische Wirtschaft von ihrer neuen Rolle als wichtigste Handelsdrehscheibe Russlands zum Rest der Welt sowie als Makler für Finanztransaktionen mit dem isolierten Aggressor.
Einer, der an Treffen mit der russischen Seite in Istanbul beteiligt war, ist Rustem Umjerow, allerdings bevor der Krimtatar neuer ukrainischer Verteidigungsminister wurde. Ihm kam dabei zugute, dass er fließend Türkisch spricht und er zudem in der Türkei als Vermittler bei der Freilassung von gefangenen Krimtataren nach der russischen Kriminvasion 2014 Vertrauen genießt. Ihren Ruf als Makler im russischen Angriffskrieg begründete die Türkei auch als Makler des inzwischen von Moskau aufgekündigten Getreideabkommens.
Vor mehr als einem Jahr, im September 2022, war es zum bislang größten und spektakulärsten Gefangenenaustausch gekommen: 215 Ukrainer und zehn ausländische Kämpfer hatten damals gegen 55 russische Offiziere und prorussische Politiker der Ukraine, darunter auch der Putin-Vertraute Wiktor Medwedtschuk, die Seiten gewechselt. Die Ukrainer wurden in der Türkei übergeben, die Ausländer – fünf Briten, zwei Amerikaner, ein Marokkaner, ein Kroate und ein Schwede – an Saudi-Arabien. Der letzte bekannte Kriegsgefangenenaustausch, 45 von jeder Seite, fand im Juli statt.
Eine zunehmend wichtige Rolle als Vermittler nimmt auch der Vatikan ein. Die katholische Kirche, der vor allem im ehemals österreichisch-ungarischen Westen des Landes bis zu 10 Prozent der ukrainischen Bevölkerung angehören, setzt sich aktuell für die Rückführung nicht-militärischen ukrainischen Armeepersonals ein – darunter Köche, Sanitäter etc., die von Russland entgegen der Genfer Konventionen dennoch gefangen genommen wurden. Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, letzten Sommer zu einem Treffen mit Papst Franziskus eingeladen.
Katar als Vermittler ist es im Oktober 2023 gelungen, dass vier nach Russland entführte Kinder an ihre ukrainischen Eltern übergeben werden konnten. Ein am Deal beteiligter Beamter sagte anonym der "Washington Post", dass Katar wegen der Komplexität der Fälle eingegriffen habe.
Im März hatte der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Marija Alexejewna Lwowa-Belowa erlassen. Der Vorwurf: Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit der Zwangsumsiedlung ukrainischer Kinder. Übereinkünfte zwischen Kiew und Moskau sind auf diesem Gebiet besonders "fragil". Die Einbeziehung von Drittstaaten, an deren guten Beziehungen Moskau etwas liegt, erschwere dem Kreml einen spontanen Rückzug vom Deal.
Im Allgemeinen gibt Russland Kinder nur an Erziehungsberechtigte oder deren gesetzliche Vertreter frei, was bedeutet, dass Eltern oder andere Verwandte nach Russland reisen müssen – eine Reise, die angesichts der Kriegsbedingungen unmöglich sein kann. Katar ist damit nach der Türkei und Saudi-Arabien das dritte Land, das einen erfolgreichen Deal zwischen Russland und der Ukraine vermittelt hat.