Die Stimmung im Land nehme er als "unruhig" wahr. Viele Bürger seien unsicher, ob "das alles gut ausgeht für sie – ob wir das hinkriegen mit dieser wohl größten industriellen Modernisierung seit mehr als 100 Jahren. Das ist eine Reise, deren Ende noch nicht abzusehen ist", sagte Scholz. Das wolle er "offen und ehrlich aussprechen".
Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat sich in ihrer Amtszeit seit mehr als zwei Jahren viele zum Teil hart ausgetragene öffentliche Streitigkeiten geliefert, zum Beispiel über das Heizungsgesetz oder die Kindergrundsicherung. Die Parteien der Koalition stehen in Umfragen schlecht da.
Scholz zeigte sich aber zuversichtlich, dass es eine Besserung gibt: "Dass wir es jetzt nach dem Urteil aus Karlsruhe hingekriegt haben, einen ordentlichen Haushalt aufzustellen, der unseren aktuellen Herausforderungen gerecht wird, macht mir Hoffnung. Gemeinsam mit den Beschlüssen zu Bürgergeld, Migration und dem Ausbau von Windkraft und Solarenergie kann das eine gute Grundlage dafür sein, dass sich die Regierung Vertrauen zurückerkämpft."
Die Stimmung im Land nehme er als "unruhig" wahr, sagte Scholz. "Man spürt im Land die ökonomischen und politischen Verwerfungen, die der russische Überfall auf die Ukraine verursacht hat. Gleichzeitig spürt man Unsicherheit, weil wir als wirtschaftlich starkes Land gerade dabei sind, die Weichen zu stellen, damit es in 20 und 30 Jahren hier auch noch gute Arbeitsplätze gibt und wir technologisch weiter vorne dabeibleiben."
Die Koalition gehe nicht den leichten Weg, sondern mute sich angesichts der großen Herausforderungen Konflikte zu, sagte Scholz. In den vergangenen 10, 15 Jahren sei viel zu viel liegen geblieben, weil Regierungen Konflikte vermieden hätten.
Zu den Erfolgen der AfD sagt der Kanzler: "Der Geist ist aus der Flasche." Dies zurückzudrängen, werde "schwer, wenn es um die geht, die rechte Gesinnungen haben." Die anderen müssten überzeugt werden, "indem wir eine Politik machen, die unser Land auf den richtigen Weg führt und die Probleme angeht."
Zur Debatte über ein mögliches Verbot der Partei sagte Scholz, mit dieser Frage beschäftigten sich die zuständigen Behörden, besonders der Verfassungsschutz. "Unser oberstes Gericht wird in absehbarer Zeit zudem über eine Klage der AfD entscheiden, die sich dagegen wendet, dass die Partei als Ganzes vom Verfassungsschutz beobachtet werden soll. Und gerade in dieser Woche hat es ein Grundsatzurteil zum Ausschluss der NPD aus der Parteienfinanzierung gegeben. Das ist eine wichtige Entscheidung, die man jetzt sorgfältig auswerten muss. Ungeachtet all dessen bin ich aber überzeugt: Die AfD muss vor allem politisch bekämpft werden." Der Rechtspopulismus sei "Gift für unser Zusammenleben und unsere Demokratie".
Scholz wies auch Gerüchte zurück, denen zufolge in der SPD unter seiner Beteiligung über eine Vertrauensfrage oder einen Kanzlerwechsel nachgedacht worden sei. Dies sei "ein Märchen". Auf die Frage, ob er erwogen habe, aufzuhören, sagte Scholz: "Nein."
Zuletzt hatte die Bundesregierung unter Kanzler Scholz stark an Ansehen in der Bevölkerung verloren. Mehreren Meinungsumfragen der vergangenen Wochen zufolge müssten die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP hohe Verluste hinnehmen, wenn schon jetzt ein neuer Bundestag gewählt würde. Die nächste Bundestagswahl findet im Spätsommer oder Herbst 2021 statt.
Scholz fordert die europäischen Länder auf, mehr zur Unterstützung der Ukraine beizutragen. "Die Beiträge, die die europäischen Staaten bisher für 2024 vorgesehen haben, sind noch nicht groß genug", sagte Scholz "Europa muss diskutieren, was jedes Land beitragen kann, damit wir die Unterstützung erheblich ausweiten können."
Die Ukraine müsse ihr Land verteidigen können, erklärte der Kanzler. "Und das darf nicht an einem Mangel an Luftverteidigung, Artillerie, Panzern oder Munition scheitern. Es ist meine feste Überzeugung, dass Europa mehr tun muss, um die Ukraine bei der Verteidigung des eigenen Landes zu unterstützen."
Auf die Frage, ob er enttäuscht sei über die anderen Europäer, sagte Scholz: "Na, ich bin eher irritiert, dass ich mich in Deutschland ständig der Kritik stellen muss, die Regierung tue zu wenig und sei zu zögerlich. Dabei tun wir mehr als alle anderen EU-Staaten, sehr viel mehr. Ich telefoniere deshalb gerade viel mit meinen Kollegen und bitte sie, mehr zu machen."
Deutschland mobilisiere momentan in Europa mehr als die Hälfte der bekannten Unterstützung für Waffen zur Verteidigung der Ukraine, sagte der Kanzler. "Es wäre Hybris, zu glauben, wir könnten das auf Dauer allein. Noch mal: Unsere Freunde in Europa müssen ihre Hilfen massiv ausweiten. Es wäre keine gute Nachricht, wenn Deutschland, sollten die USA als Unterstützer wegfallen, am Ende der größte Unterstützer der Ukraine wäre. Wir sind, wie Helmut Schmidt gesagt hat, nur eine Mittelmacht."