Eigentlich hätte die Bundesrepublik an dem sonnigen und windigen Dienstag vor einem halben Jahrhundert weiter entfernt von den Vertretern der DDR sitzen sollen. Doch die "Federal Republic of Germany" änderte ihren Namen in "Germany, Federal Republic of" - mit Kalkül: "Die Bundesrepublik wollte nicht den Eindruck erwecken, als sei die erste Nennung des Namens Deutschland ein Privileg der DDR", erklärt Geschichtsprofessor Manuel Fröhlich von der Universität Trier, der einen Aufsatz über die Deutsche UN-Historie verfasst hat.
Knapp 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg markierte der Vorgang die endgültige Rückkehr Deutschlands in die Weltgemeinschaft, wobei im Nebeneinander der deutschen Diplomaten in der Vollversammlung auch die Spaltung der Welt in West und Ost sichtbar wurde. "Es war schon augenfällig, dass die Beiden nebeneinander saßen wie sie auch geografisch in der Mitte Europas nebeneinander waren", sagt Experte Fröhlich. Für die Bundesrepublik war die deutsch-deutsche Aufnahme in die Vereinten Nationen nicht ohne Risiko, gab es doch Stimmen, die mit dem Beitritt Fortschritte in Richtung Wiedervereinigung vor dem Hintergrund des lange geltenden Alleinvertretungsanspruchs in Gefahr wähnten.
Doch Bundeskanzler Willy Brandt machte nur wenige Tage nach dem historischen Beitritt vom weltberühmten Podium der Vollversammlung deutlich, dass er die Bühne nicht für Auseinandersetzungen mit der DDR nutzen wollte: "Wir sind nicht hierhergekommen, um die Vereinten Nationen als Klagemauer für die deutschen Probleme zu betrachten oder um Forderungen zu stellen, die hier ohnehin nicht erfüllt werden können".
Für die DDR wiederum bedeutete die offizielle Aufnahme in den Kreis der Vereinten Nationen einen Meilenstein für ihre weltweite Anerkennung. Ost-Berlin war es seit Jahren ein Dorn im Auge, dass die BRD bereits vor 1973 eine privilegierte Partnerschaft mit dem UN-System pflegte und in zahlreichen Organisationen bereits als Beobachter zugelassen war - sie selbst aber nicht.
Fröhlich sieht in der UN-Identität Deutschlands eine "große Kontinuität", sie sei bis heute sehr prinzipiengetrieben und orientiere sich am Völkerrecht. Dass die Navigation dieser Werte für deutsche Vertreter nicht immer leicht war, zeigte sich unter anderem in der berühmten Sitzung des UN-Sicherheitsrates, in der US-Außenminister Colin Powell 2003 die Welt davon überzeugen wollte, dass der irakische Herrscher Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitzt. Deutschlands Außenminister Joschka Fischer saß dem Gremium damals vor - und ließ seine Skepsis deutlich durchblicken.
Im Jahr 2023 hat die Bundesrepublik sich für UN-Generalsekretär António Guterres zu einer zentralen Stütze entwickelt: Berlin sei zu einem "Verfechter der Charta der Vereinten Nationen" geworden, lobt er. "Wir zählen auf Deutschland als wichtigen Partner bei unseren weltweiten Bemühungen, eine gerechtere und friedlichere Zukunft für die gesamte Menschheit aufzubauen."
Das Vertrauen des UN-Chefs spiegelt sich auch darin wider, dass Deutschland mit der Planung eines Meilenstein-Treffens nächstes Jahr betraut wurde: Auf dem "Zukunftsgipfel" soll im Herbst 2024 die Grundlage für eine umfängliche Neuausrichtung der UN gelegt werden. Verantwortlich für den Gipfel ist die gegenwärtige deutsche Botschafterin Antje Leendertse - die erste Frau im New Yorker Chefsessel.
Leendertse sagt, die internationale Diplomatie und das UN-System müssten sich verändern. In Anlehnung an den von Bundeskanzler Olaf Scholz geprägten Begriff der "Zeitenwende" sieht sie eine "Globale Zeitenwende" für die Zusammenarbeit: "Wir haben viele Felder, zum Beispiel den Weltraum, Künstliche Intelligenz oder die Digitalisierung, für die es keine verbindlichen Regeln oder auch nur einen Verhaltenskodex gibt." Die größte Veränderung aber brauche es im Umgang mit den Entwicklungsländern in Afrika, Lateinamerika und Asien. "Es geht um mehr Mitgestaltung und Rechte des sogenannten Globalen Südens", so Leendertse.
Wie schwierig es jedoch ist, die Vereinten Nationen und ihre Institutionen zu entkrusten, merkte auch der frühere UN-Botschafter Christoph Heusgen. Als der heutige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz im April 2019 den Vorsitz des Sicherheitsrats übernahm, sorgte Deutschland als damaliges nicht-ständiges Mitglied des mächtigsten UN-Gremiums mit ein paar Neuerungen für Stirnrunzeln.
Heusgen setzte eine Sanduhr auf den Tisch, um die Vertreterinnen und Vertreter an ihre nur fünfminütige Redezeit zu erinnern. Außerdem zog er die schweren Gardinen des Saals auf und ließ Licht rein. "Ich wollte damit mehr Licht und im übertragenen Sinne mehr Transparenz in das Gremium bringen. Wir wollten mit diesen symbolischen Maßnahmen nach außen verdeutlichen, dass wir uns engagieren, dass wir den Sicherheitsrat modernisieren wollen", erzählt Heusgen. Nachhaltig gewirkt hat das aber nicht: Die Gardinen sind wieder zu - und auch die Sanduhr ist verschwunden.
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