In elf Zeitzonen hatte der Kremlchef kürzlich zu den Urnen gerufen. Dabei war es eine Regionalwahl, die man angesichts einer unterdrückten und weggesperrten Opposition, vielfacher Manipulation und Propaganda statt Pressefreiheit nicht als Wahl bezeichnen kann. Für den Kreml war die Abstimmung wie ein großer Testballon für die Präsidentschaftswahlen im März 2024. Diese seien für die Bevölkerung deutlich emotionaler und das Interesse größer, sagt Russland-Expertin Leslie Schübel von der Körber-Stiftung: "Bei den Regionalwahlen kann der Kreml recht einfach verschiedene Dinge ausprobieren, weil sie kaum jemanden interessieren." So sei getestet worden, wo es Protestpotenzial gebe, wie fest die regionalen Eliten hinter der Linie des Kremls stünden und wie stabil das Machtsystem insgesamt sei.
Die "Testwahl" sei für den Kreml erfolgreich gewesen, so Schübels Bilanz, es habe keine größeren Proteste gegeben. "Im Moment ist das System so autoritär organisiert, dass es keinen Widerstand gibt." Putins Partei Einiges Russland sei in vielen Regionen stärker geworden, weil der Kreml weniger Spielraum gelassen habe. Früher hätten noch lokale Eliten – also regionale Figuren – durch ihre Persönlichkeit oder zum Teil sogar mit politischen Inhalten eine Chance gehabt. Nun setze der Kreml auf selbst ausgewählte Personen, die auf Linie seien. In Moskau feiert man die Stimmengewinne als Zeichen der Stärke Putins.
Zwei wichtige Instrumente aus der Corona-Zeit wurden bei den Wahlen diesmal verstärkt als Manipulationsinstrumente eingesetzt: die Onlinewahl und die Ausdehnung der Zeit für die Stimmabgabe auf mehrere Tage. "Was ursprünglich tatsächlich dazu führte, dass weniger Menschen sich in den Wahllokalen begegneten, ist nun ein bequemes Fälschungswerkzeug geworden", so Alexey Yusupov, Leiter des Russland-Programms der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Denn die elektronische Stimmabgabe entzieht sich jeglicher Überprüfung durch Dritte, während die ausgedehnte Wahlzeit es erlaubt, vor allem nachts ungestört physische Manipulationen an Stimmzetteln und Wahlurnen vorzunehmen." Ein Vorgeschmack auf die Präsidentschaftswahlen 2024?
Die Fokussierung auf Putin in den gelenkten russischen Staatsmedien hat zu einem Personenkult geführt, der keinen Platz für einen Konkurrenten neben ihm lässt. Bei der heutigen Medienlandschaft in Russland, die fast nur Propaganda verbreitet, könne die Regierungspartei Einiges Russland nach Ansicht von Russland-Expertin Schübel auch ohne diese intensive Wahlfälschung gewinnen. "Einerseits belegen die Fälschungen das tief verankerte und weit verzweigte Machtsystems des Kremls – die Wahlen werden ja quasi von Hand vor Ort gefälscht." Andererseits würden die Fälschungen dazu dienen, alle Unwägbarkeiten und Überraschungen auszumerzen.
Für den Kreml sind Onlineabstimmungen aber nicht nur wegen der Manipulationsmöglichkeiten attraktiv. "Onlinewahlen erhöhen die Wahlbeteiligung, weil genau nachvollzogen werden kann, wer wie gewählt hat und wer nicht", sagt Schübel. Sie seien ein weiteres Zwangsinstrument, damit sich möglichst viele Menschen an der Abstimmung beteiligen. "Putin setzt auf eine hohe Wahlbeteiligung, um seine Macht zu legitimieren." Um diese zu erreichen, würden etwa Studierende unter Druck gesetzt, ihre Prüfungen nicht zu bestehen, wenn sie nicht mit bereitgestellten Bussen zum Wahllokal fahren. Auch Unternehmen zwängen ihre Mitarbeiter, zur Wahl zu gehen.
Das russische Regime hat mit dem Paradox zu kämpfen, dass es einerseits eine hohe Wahlbeteiligung will, sich aber andererseits die Bevölkerung nicht besonders für Politik interessieren soll. Die Menschen wurden über viele Jahre gezielt vom Kreml entpolitisiert. "Eine über Jahrzehnte praktizierte Demobilisierung der eigenen Bevölkerung hinterlässt Spuren, sie richtet sich nicht nur ausschließlich gegen den potenziellen Dissens, sondern sie zersetzt genauso auch die eigene Unterstützerbasis", erläutert Yusupov. Apathie und Fatalismus seien Verbündete des Kremls, wenn man die Menschen zum Beispiel von Antikriegsprotesten abhalten wolle. Doch wenn der Kreml plötzlich aktive Gefolgschaft einfordern möchte, werde diese Strategie zu einem Problem.
Putin hatte 2018 bei der Wahl 76,69 Prozent der Stimmen erhalten, bei einer Beteiligung von 67,54 Prozent. 2024 sollen beide Zahlen steigen. "Unsere Präsidentschaftswahlen sind keine echte Demokratie, sondern kostspielige Bürokratie", zitierte die "New York Times" vor wenigen Tagen Kremlsprecher Dmitri Peskow. "Putin wird nächstes Jahr mit mehr als 90 Prozent der Stimmen wiedergewählt." Es ist das erste Mal, dass aus Putins innerstem Zirkel so schonungslos offen über das bevorstehende Wahltheater gesprochen wird. Nachdem Peskows Äußerung ein weltweites Medienecho ausgelöst hatte, ruderte er zurück und erklärte, er habe nur seine private Meinung geäußert.
Glaubt man Levada, dem einzigen halbwegs unabhängigen Meinungsforschungsinstitut in Russland, ist Putins Popularität nahezu ungebrochen. Das einzige Mal, dass die Zustimmungswerte einbrachen, war vor einem Jahr, als eine Teilmobilmachung angeordnet wurde. "Wir haben über Nacht den größten Rückgang der Unterstützung für Herrn Putin in 30 Jahren Umfragen erlebt", sagte Levada-Direktor Denis Wolkow der "New York Times". "Plötzlich war der Krieg da!" Inzwischen erreiche Putin wieder eine Zustimmung von rund 80 Prozent. Angeblich, denn wie offen und ehrlich die Menschen bei den Umfragen antworten, ist unklar.
Peskow sagte zwar, dass Putin für die Präsidentenwahl noch nicht als Kandidat aufgestellt sei. "Doch wenn wir annehmen, dass der Präsident seine Kandidatur erklärt, dann ist eines offensichtlich: Reale Konkurrenz kann Putin in unserem Land in der derzeitigen Lage niemand machen."
Für Russland-Expertin Schübel steht der Ausgang des Wahltheaters im Frühjahr schon jetzt fest: "Einiges Russland wird die ‚Wahl‘ mit großem Abstand gewinnen und Putin an der Spitze bleiben." Gleichzeitig sei davon auszugehen, dass die Repressionen gegen die verbliebene Opposition und die Zivilgesellschaft rund um die Wahl noch zunehmen werden. Sie rechnet auch mit Sozialleistungen als Wahlgeschenken, um die Stimmung in der Bevölkerung vor der Wahl zu heben.
"Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Kreml die Kriegsanstrengungen in der Ukraine vor den Wahlen noch einmal intensivieren wird, weil das Regime seine öffentlichen Erfolge inzwischen sehr stark über Erfolge im Krieg definiert", sagt Schübel. Derzeit sehe es so aus, als könne nur eine Niederlage die Herrschaft Putins infrage stellen.
Der Kreml versucht, den Krieg so weit wie möglich aus dem Alltag der Menschen herauszuhalten. Auch bei den Regionalwahlen spielte er in der Propaganda kaum eine Rolle. "Die Männer, die nicht oder nur in Särgen zurückkommen, sind ein privates Thema und kein öffentliches", beobachtet Schübel. Die Sanktionen des Westens berührten die meisten Menschen in Russland kaum. Es sei ihnen egal, dass die McDonald’s-Filiale jetzt einen anderen Namen habe oder iPhones auf anderen Wegen in die Einkaufszentren kämen. "Noch ist das Regime reich und stabil genug und die Propaganda kreativ genug, dass Putin bei den Wahlen nichts zu befürchten hat."
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