Die Ukraine bemüht sich seit Monaten, mit ihren Unterstützern einen internationalen Gerichtshof nach dem Vorbild des Nürnberger Tribunals für Nazi-Kriegsverbrecher zu bilden, vor dem sich führende Vertreter Moskaus für den Krieg gegen das Nachbarland verantworten sollen. Nach Selenskyjs Angaben befassten sich am Freitag Generalstaatsanwälte und Justizminister aus verschiedenen Ländern in Lwiw mit diesem Thema. Nach offiziellen ukrainischen Angaben, die erst am Abend nach dem Treffen veröffentlicht wurden, nahmen unter anderem US-Justizminister Merrick Garland und der niederländische Vizeregierungschef Wopke Hoekstra an der Konferenz teil. Auch EU-Justizkommissar Didier Reynders gehörte demnach zu den Teilnehmern. Vermutlich aus Sicherheitsgründen war die Tagung zunächst geheim gehalten worden.
"Wir sammeln ein Maximum an Unterstützung für das Tribunal über die russische Aggression gegen die Ukraine", sagte Selenskyj. "Wir tun alles, um sicherzustellen, dass der Internationale Strafgerichtshof bei der Bestrafung russischer Kriegsverbrecher erfolgreich ist, und dass unsere nationalen Strafverfolgungs- und Justizbehörden für gerechte Urteile gegen alle russischen Mörder und Folterer sorgen." Den Plänen für dieses von Kiew angestrebte Tribunal fehlen aber bisher wirksame Maßnahmen, mit denen die politische und militärische Führung Moskaus auf die Anklagebank gebracht werden könnte.
Die ukrainischen Behörden graben immer noch Menschen aus, die während der kurzen, aber brutalen Besetzung von Dörfern und Städten in der Nähe von Kiew hastig in provisorischen Gräbern begraben wurden. Alleine in der Region bleiben fast 200 Leichen unidentifiziert, während 280 Personen als vermisst gelten. Die Exhumierungen erhöhen die Zahl der zivilen Leichen, die in den zuvor von Russland besetzten Gebieten der Region Kiew gefunden wurden, auf 1.373, sagte Nebytov. Davon müssen 197 noch identifiziert werden.
Außenministerin Annalena Baerbock will die russische Führungsriege mit einem internationalen Sondertribunal für den Angriffskrieg in der Ukraine zur Rechenschaft ziehen. Das Gericht außerhalb der Ukraine solle seine Rechtssprechung aus dem ukrainischen Strafrecht ableiten, machte die Grünen-Politikerin bereits letzten Monat in einer Grundsatzrede an der Haager Akademie für Völkerrecht deutlich. Das Tribunal soll gegen die russische Führung ermitteln und sie vor Gericht stellen können. Parallel schlägt Baerbock eine Reform des Völkerstrafrechts vor.
Ein Sondertribunal sei "keine ideale Lösung, auch nicht für mich", räumte Baerbock ein. "Aber dass wir diese Sonderlösung brauchen, liegt daran, dass unser Völkerrecht eben derzeit eine Lücke hat." Man rede zudem nicht über Probleme in 20 Jahren, "sondern über Gerechtigkeit von heute". Man brauche eine "ganz klare Botschaft an die russische Führung (...) und damit auch an alle anderen in der Welt, dass ein Angriffskrieg in dieser Welt nicht ungestraft bleibt".
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