Auslöser des Diskussionsabends war der Vorstoß eines örtlichen Abgeordneten, Abtreibungen in privaten Kliniken zu verbieten. Der große Andrang hat auch Dascha Jakowlewa, eine der Organisatorinnen der Veranstaltung, überrascht. Umso mehr fühlt sie sich ermutigt. "Im Moment gibt es in Russland keinen Raum für politische Aktivitäten", sagt sie. Debatten fänden nur noch in "unseren Küchen" statt. Doch diesmal hätten an einem in der Stadt bekannten Ort "alle offen darüber gesprochen, wie sie diese Maßnahmen sehen, warum sie sie für ungerechtfertigt und unangemessen halten".
Noch sind Abtreibungen in Russland unter bestimmten Voraussetzungen legal und für die meisten Frauen auch verfügbar. Doch die Regeln sind in vielen Regionen des Landes zuletzt verschärft worden.
Und obwohl die Regierung von Präsident Wladimir Putin seit Beginn ihres Angriffskriegs in der Ukraine mit aller Härte gegen kritische Stimmen im eigenen Land vorgeht, scheint sie mit ihrer Initiative gegen Schwangerschaftsabbrüche auf deutlichen Widerstand zu stoßen. Aktivistinnen rufen Unterstützer dazu auf, offizielle Beschwerden einzureichen, sie verbreiten Onlinepetitionen und organisieren sogar kleine Kundgebungen. Die Pläne treffen einen empfindlichen Nerv. Während in Kaliningrad bisher nur ein entsprechender Vorschlag auf dem Tisch liegt, haben sich private Kliniken in anderen Teilen Russlands bereits an Forderungen aus Moskau angepasst und bieten keine Abtreibungen mehr an.
Auf nationaler Ebene hat das Gesundheitsministerium "Argumentationshilfen" für Ärzte erstellt, um Frauen gezielt von Schwangerschaftsabbrüchen abzuraten. Geplante neue Regelungen dürften dafür sorgen, dass viele Notfallverhütungsmittel bald praktisch nicht mehr erhältlich sind und andere deutlich teurer.
In der Sowjetunion waren Abtreibungen weit verbreitet. Nach den politischen Umbrüchen zu Beginn der 1990er-Jahre förderte die russische Regierung Familienplanung und Geburtenkontrolle und senkte damit die Abtreibungsraten. Schwangerschaftsabbrüche blieben aber bis zur zwölften Woche legal, beim Vorliegen von verschiedenen "sozialen Gründen", wie etwa Scheidung oder Arbeitslosigkeit, sogar bis zur 22. Woche.
Unter Putin wurden die Regeln jedoch nach und nach verschärft. Gemeinsam mit der Russisch-Orthodoxen Kirche setzt der Präsident verstärkt auf "traditionelle Werte" und auf eine Förderung des Bevölkerungswachstums. Gesundheitsminister Michail Muraschko wetterte zuletzt öffentlich gegen Frauen, die der eigenen Ausbildung und Karriere eine höhere Priorität einräumen würden als dem Kinderkriegen.
Zwischen der zwölften und der 22. Schwangerschaftswoche sind Abtreibungen in Russland heute nur noch im Falle einer Vergewaltigung erlaubt. Generell müssen Frauen zwischen dem ersten Termin und dem tatsächlichen Eingriff zwei bis sieben Tage warten, um ihre Entscheidung noch einmal überdenken zu können. Außerdem wird ihnen psychologische Beratung angeboten, die sie von dem Eingriff abhalten soll, wie aus offiziellen Richtlinien hervorgeht.
In einer russischen Region werden Frauen, die eine Abtreibung vornehmen wollen, zunächst an einen Priester verwiesen. Nach Darstellung der Behörden handelt es sich dabei um ein freiwilliges Gespräch. Betroffene Frauen haben gegenüber Medien aber erklärt, dass sie eine Unterschrift von einem Geistlichen hätten vorlegen müssen, um eine Abtreibung genehmigt zu bekommen.
Die schärferen Regeln kommen in einer Zeit, in der russische Frauen angesichts des Krieges und der wirtschaftlichen Unsicherheit offenbar keine Eile haben, mehr Kinder zu gebären. Der Verkauf von Abtreibungspillen habe im Jahr 2022 um 60 Prozent zugenommen, sagt Nikolaj Bespalow vom Marktforschungsunternehmen RNC Pharma. Im aktuellen Jahr sei er um 35 Prozent gesunken, liege aber immer noch höher als vor Beginn des Krieges. Auch der Verkauf von Verhütungsmitteln habe seit 2022 zugenommen.
Konservative Politiker sehen sich vor diesem Hintergrund offenbar genötigt gegenzusteuern. Selbst wenn es nicht zu einem kompletten Verbot komme, sei es "wichtig zu verstehen, dass der Druck auf Frauen zunehmen wird", sagt die Psychotherapeutin Lina Scharin, die ebenfalls an der Organisation der kürzlichen Veranstaltung in Kaliningrad beteiligt war. Eine Onlinepetition gegen das Verbot hat in der Stadt in der russischen Enklave an der Ostsee bereits fast 27.000 Unterschriften erhalten.
In den "Argumentationshilfen" werden Ärzte aufgefordert, Schwangerschaft als "einen schönen und natürlichen Zustand für jede Frau" und Abtreibung als "schädlich für die eigene Gesundheit und ein Risiko im Hinblick auf Komplikationen" darzustellen. Für manche, die tatsächlich noch unsicher sind, könnten solche Gespräche womöglich hilfreich sein. Viele andere dürften sie als zutiefst unangenehm empfinden.
"Ich möchte einfach keine Kinder haben", sagt Anastasia, die 2020 wegen einer Abtreibung einen Arzt aufsuchte. Dass dieser versucht habe, sie von ihrer Entscheidung abzubringen, "war nicht sehr schön", betont die Frau aus Moskau, die aus Angst vor Repressalien darum bittet, nicht ihren vollen Namen zu veröffentlichen.
Aus Sicht der Gynäkologin Ljubow Jerowejewa, die in den Neunzigerjahren die Kampagnen für Familienplanung vorangetrieben hatte, wäre es in der aktuellen Lage wichtig, die Aufklärung über Geburtenkontrolle zu verbessern und Verhütungsmittel flächendeckend verfügbar zu machen. Anstatt einer Frau von einer Abtreibung abzuraten, sollten die Behörden "alles dafür tun, dass sie gar nicht erst um eine bitten muss", sagt sie.