Dennoch wird erwartet, dass Putin bei den russischen Präsidentschaftswahlen im März für eine weitere Amtszeit kandidiert. Tatsächlich setzte er eine Verfassungsänderung durch, die ihm zwei weitere, sechsjährige Amtszeiten ermöglichen würde. Doch mit 71 Jahren sind Tod oder schwere Krankheit kein abwegiges Thema für den Mann, der Russland seit 24 Jahren regiert. Sollte Putin aus irgendeinem Grund nicht auf dem Wahlzettel stehen, ist unklar, wer seinen Platz einnehmen könnte.
Das politische System Russlands kennt keine Vorwahlen wie etwa in den USA, wo die Wähler einen Kandidaten auswählen; die Parteien küren ihre eigenen Kandidaten und stellen sie dann den Wählern vor. Die Putin-treue Partei Einiges Russland könnte einen Kandidaten aufstellen, obwohl es kein festgelegtes Verfahren für dessen Auswahl gibt. Offiziell kandidierte Putin 2018 als Unabhängiger – ein Präzedenzfall, der die Ungewissheit über den Nachfolger noch erhöht. Doch egal wie es ausgeht: Ein Nachfolger würde mit ziemlicher Sicherheit aus dem aktuellen Machtsystem kommen, da keiner der Kandidaten der kleineren Parteien breite Anerkennung oder Unterstützung genießt.
Wie zum Beispiel Dimitri Medwedew: Er verfügt über einzigartige Erfahrungen als Putins Stellvertreter, weil er 2008 Präsident wurde, als Putin aufgrund der Beschränkung der Amtszeiten nicht zur Wiederwahl antreten konnte. Dennoch war er die Nummer Zwei hinter Putin, der Ministerpräsident wurde und das Land faktisch weiter führte.
Dem Wunsch Putins, 2012 für eine weitere Amtszeit zu kandidieren, kam er gehorsam nach und blieb bis 2020 Ministerpräsident. Danach wurde er zum stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates ernannt – ein Amt, das neu geschaffen worden war, wenig Gelegenheit zur Profilierung bot und als einträglicher Ruheposten angesehen wurde. Dennoch stieg sein Bekanntheitsgrad im vergangenen Jahr sprunghaft an, als er seine übliche Zurückhaltung aufgab, zu einem der vehementesten Verteidiger des Krieges gegen die Ukraine wurde und den Westen scharf anprangerte.
Damit wurde Medwedew für russische Nationalisten attraktiv, doch ihm könnte der Vorwurf schaden, dass er den Vereinigten Staaten während der Präsidentschaft von Barack Obama im Rahmen der Reset-Initiative der USA zu sehr entgegen gekommen sei. Hinzu kommen Enthüllungen über mutmaßliche Korruption und einen verschwenderischen Lebenswandel.
Als Gouverneur der Region Tula ist Alexej Djumin in der Bevölkerung nicht sonderlich bekannt, doch wird er seit Jahren als Putins möglicher Nachfolger gehandelt, da er enge Beziehungen zum Präsidenten unterhält und unter anderem als dessen Leibwächter fungiert hat.
Eine gewisse Berühmtheit erlangte er mit seiner dramatischen Behauptung, er habe Putin einmal vor einem Bären gerettet: Demnach war er mit Putin in einem Haus in den Bergen, als er hörte, dass ein Bär vor der Tür war: „Der Bär und ich sahen einander in die Augen“, erzählte Djumin. „Er wich ein wenig zurück, und ich öffnete die Tür und feuerte das gesamte Magazin meiner Pistole auf seine Füße ab.“
Djumin war Chef der Spezialkräfte des militärischen Geheimdienstes bei der Annexion der Krim durch Russland 2014, was ihm aus russischer Sicht eine Aura von Tapferkeit und Erfolg im Zusammenhang mit der Ukraine verlieh – im Gegensatz zu den grausamen Kämpfen und Niederlagen des aktuellen Krieges.
Wenn es bei einem russischen Präsidentschaftswahlkampf auf die Optik ankäme, hätte Sergej Sobjanin wohl das stärkste Portfolio von allen Kandidaten. Als Bürgermeister von Moskau seit 2010 führte er erhebliche Neuerungen ein: In der russischen Hauptstadt gibt es neue Erholungsgebiete, Fußgängerzonen, Sporteinrichtungen und andere Annehmlichkeiten. Elektrobusse ersetzten klappernde alte Oberleitungsbusse, neue S-Bahn-Linien reduzierten die berüchtigten Staus in der Stadt, und einst verwahrloste Parks wurden gesäubert und aufgewertet.
Sobjanin stieß westlich orientierte Liberale vor den Kopf, als er LGBTQ+-Paraden in der Stadt verbot, doch mit Toleranz für Schwulenrechte ist in Russland kein Staat zu machen. Sobjanin vermied außerdem die Extravaganz und Politik der Spaltung seines Vorgängers Juri Luschkow.
Als Russlands Ministerpräsident seit 2020 erregte Michail Mischustin relativ wenig Aufmerksamkeit, doch er hat einen bedeutenden Vorteil: Sollte Putin vor der Wahl sterben oder nicht mehr in der Lage sein, seine Pflichten zu erfüllen, würde Mischustin zum amtierenden Präsidenten – ebenso wie Putin zum Präsidenten ernannt wurde, als Boris Jelzin an Silvester 1999 seinen Rücktritt erklärte. Putin nutzte dies, um im folgenden Jahr die Wahl zu gewinnen.
Mischustin scheint diesen Ehrgeiz jedoch nicht zu haben. Er ist ein stiller Technokrat, der in seinem früheren Amt als Leiter der nationalen Steuerbehörde als äußerst kompetent galt. Als Ministerpräsident erreichte er für die Aufsicht über Behörden und Ministerien Zustimmungswerte von bis zu 70 Prozent. Obwohl viele Beobachter glauben, dass er von Putins Entscheidung zum Einmarsch in die Ukraine überrumpelt wurde, führte er seine Aufgaben beharrlich weiter.
Die Parallelen zwischen Putin und Nikolai Patruschew sind frappierend. Sie wurden im Abstand von zehn Monaten im damaligen Leningrad geboren, und Patruschew wurde Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, der wichtigsten Nachfolgeorganisation des KGB, als Putin Ministerpräsident wurde. Jetzt ist er Chef des Nationalen Sicherheitsrates und wiederholt manchmal Putins aggressive Ansichten und seine Feindseligkeit gegenüber dem Westen.
Obwohl sich Patruschew zunächst weigerte, ein paar Tage vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine die Unabhängigkeit der Separatistengebiete Donezk und Luhansk anzuerkennen, wurde er später zu einem entschiedenen Befürworter des Krieges. Zur Begründung sagte er, Russland müsse angebliche „Neo-Nazis“ vor seiner Haustür auslöschen, und die Ukraine sei mit ihrer westlichen Ausrichtung eine klare Bedrohung für die Sicherheit. Er prangerte außerdem das angebliche Einsickern westlicher, neoliberaler Ideen nach Russland an und verteidigt die Bewahrung russischer Traditionen – wie Putin.