"Noch wissen wir nicht genau, was aus diesem politischen Neuanfang wird", erzählt Bregula. "Eins aber steht fest: Vielen, vor allem jüngeren Leuten in den Großstädten, gibt das im Augenblick eine neue Hoffnung, die noch vor Kurzem vielen Menschen in diesem Land fast unvorstellbar erschien." Bregula, 44, gehört zu jenen, die für diesen Wandel gekämpft haben – auf ihre ganz spezielle Art. Sie arbeitet mit Bildern gleichgeschlechtlicher Paare, schon seit zwei Jahrzehnten. "Sollen sie uns doch sehen" hieß eine ihrer ersten Kunstaktionen aus dem Jahr 2003.
Damals, ein Jahr vor dem EU-Beitritt Polens, konfrontierte Bregula ihre Landsleute mit lebensgroßen Bildern von Frauen, die mit Frauen und von Männern, die mit Männern in der Öffentlichkeit Hand in Hand gehen. Als unerhörte Provokation wurde das damals von vielen in Polen gesehen. Im Rückblick sagt Bregula: "Wir sind seither ein großes Stück vorangekommen."
In liberalen Kreisen in Polen mussten manche sich in den letzten Wochen gelegentlich kneifen, um sicherzugehen, dass nicht alles nur ein Traum ist. Junge Leute, die seit Langem auf die Entmachtung der PiS gehofft hatten, erlebten in der Vorweihnachtszeit das erfreulichste politische Event ihres Lebens. Sie pilgerten in Warschauer Kinos, die Liveübertragungen der entscheidenden Abstimmungen im Parlament anboten.
Doch die Wende findet nicht nur auf Leinwänden statt, sie ist real. Als Erste bekamen dies zur Jahreswende die PiS-Propagandisten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu spüren. Sie hatten einen Manipulationswillen wie in kommunistischen Zeiten kombiniert mit haarsträubender Habgier – und einander hohe Fantasiegehälter genehmigt, die Rede ist vom bis zu 40-Fachen eines Lehrergehalts. Jetzt blickten sie nicht nur auf Kündigungsschreiben, sondern mussten gleich auch das Gelände ihrer Sender verlassen.
Ans Werk gehen jetzt in Warschau Ministerinnen und Minister eines extrem breiten und bunten Bündnisses, wie es Polen noch nie gesehen hat. Moderiert wurde der politische Zusammenschluss von dem neuen Premier Donald Tusk. Sogar aus der linken Szene bekommt der 66-jährige Liberalkonservative Lob: Als früherer EU-Ratspräsident habe Tusk zum Glück viel Erfahrung mitgebracht im unaufgeregten Zusammenführen von eigentlich weit auseinanderstrebenden Identitäten, Stimmungen und Strömungen.
Erzwungen wurde die für Polen ungewohnte Diversität durch schlichte Mathematik. Um den Machtwechsel möglich zu machen, mussten sich alle, die gegen die PiS waren, zusammenraufen. So entstand eine Allianz von enormer Spannweite, angefangen von proeuropäischen Konservativen und Liberalen über Linke, LGBTQ-Gruppen, Ökoaktivisten und Feministinnen bis hin zu – ein Novum im einst stockkonservativen Polen – expliziten Kritikern der katholischen Kirche. All diese Strömungen sind, das hat Tusk säuberlich austariert, nun auch in der neuen Regierung vertreten.
Sieben Frauen regieren mit in Tusks 23-köpfigem Kabinett. Sie spielen ein Schlüsselrolle, nicht zahlenmäßig, aber politisch. Tusk hat erkannt: Themen, die der frühere deutsche Kanzler Gerhard Schröder einst grinsend als "Gedöns" abtat, sind zentral für die aktuelle Wende in Polen: die Rolle der Frau in der Gesellschaft, das Abtreibungsrecht, die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften.
Widerlegt wurde bei diesem Machtwechsel der frühere US-Präsident Bill Clinton, der politische Siege oder Niederlagen stets ökonomisch zu begründen suchte: "It’s the economy, stupid!" Unter der PiS-Partei lief die Wirtschaft durchaus rund, die Renten wurden erhöht, das Kindergeld noch mehr. Dass viele Leute am Ende dennoch rebellisch wurden, lag daran, dass ihnen die gesellschaftspolitische Modernisierung zu kurz kam und ihnen der nationalkonservative Muff zu viel wurde. Passen würde dazu der Slogan: "It’s the culture, stupid."
Tusk hat auf dieses Phänomen mit der Zusammenstellung seines neuen Kabinetts und des Koalitionsvertrags sensibel reagiert. Die politischen Puzzleteile ergeben insgesamt ein völlig neues Bild von Polen. Aufhorchen ließ vor allem die Berufung folgender drei Frauen:
Agnieszka Dziemianowicz-Bąk (39), Polens neue Familienministerin, kämpft seit vielen Jahren energisch für ein liberaleres Abtreibungsrecht. Im Jahr 2016 initiierte sie landesweite Demonstrationen gegen die Pläne der PiS, die schon zuvor rigiden polnischen Abtreibungsregelungen weiter zu verschärfen. Die neue Ministerin wirbt auch für die Wiedereinführung des von der PiS abgeschafften S-exualkundeunterrichts an den Schulen. Kritiker unterstellen ihr ein nicht nur kritisches, sondern feindseliges Verhältnis zur katholischen Kirche.
Barbara Nowacka (48), Polens neue Bildungsministerin, ist ebenfalls als Feministin bekannt. Sie zählt zugleich zu den prominentesten Unterstützerinnen der LGBTQ-Bewegung in Polen. Von 2009 bis 2019 war die gelernte IT-Expertin Kanzlerin der Polnisch-Japanischen Akademie für Informationstechnologie. Parallel dazu setzte sie sich als Vorsitzende des Bürgerkomitees Let’s Save Women für ein liberaleres Abtreibungsgesetz ein. Seit 2016 engagiert sich Nowacka für einen Zusammenschluss linker und liberaler politischer Gruppierungen in Polen.
Katarzyna Kotula (46), Polens neue Ministerin für Gleichstellung, hat viele Jahre in den USA gelebt und sieht in ihrem Land einen enormen Nachholbedarf bei der Abschaffung diskriminierender Zustände. Dies gelte mit Blick auf Frauen, Behinderte und nicht zuletzt gleichgeschlechtliche Paare. Eine Registrierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften will Kotula, wie sie in der Woche vor Weihnachten erklärte, möglichst schnell in Angriff nehmen: "Ich denke, das schaffen wir in einem Monat." Die neue Koalition habe sie in dieser Frage hinter sich.
Wer von außen auf Polen blickt, könnte sich fragen: Haben Land und Leute keine dringenderen Sorgen? Tatsächlich aber hat die PiS-Partei auf Feldern, in denen es um die Rechte von Frauen geht und um geschlechtliche Selbstbestimmung, einen objektiv großen Handlungsbedarf hinterlassen.
Inzwischen steht fest: Polen muss an den illiberalen Zuständen, die die PiS-Partei hinterlassen hat, schon aus juristischen Gründen etwas ändern. Gleich zweimal hat im Dezember der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Verstöße Polens gegen die Europäische Menschenrechtskonvention festgestellt.
In einem Urteil vom 12. Dezember 2023 bewertete der Gerichtshof die noch immer gängige Praxis polnischer Behörden, gleichgeschlechtlichen Paaren keine wie auch immer geartete Registrierung ihrer Lebensgemeinschaft zu gestatten, als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
In einem Urteil vom 14. Dezember 2023 entschied der Gerichtshof zudem, Polen dürfe eine Frau, die sich dafür entschieden hat, einen Fötus wegen diagnostizierter Behinderungen abzutreiben, nicht zwingen, sich in eine ausländische Klinik zu begeben.
In beiden Fällen sah der Gerichtshof einen Verstoß gegen Artikel 8 der schon seit dem Jahr 1950 geltenden Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Danach hat jede Person "das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens".
Dass die Rufe nach Liberalisierungen in den vergangenen Jahren immer lauter wurden, hat mit der nachlassenden Autorität der katholischen Kirche zu tun. Beflügelt wurde dieser Trend durch Skandale im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch. Die Bereitschaft, sich von kirchlicher Seite in moralischer Hinsicht Tipps geben zu lassen, ist in Polen demoskopisch messbar deutlich gesunken.
Nach jüngsten Zensusdaten bezeichnen sich 71 Prozent der Polinnen und Polen als katholisch. Vor zehn Jahren waren es noch 88 Prozent. Der Anteil derer, die die katholische Religion praktizieren, sank von 70 auf 43 Prozent, bei jüngeren Leuten wurde sogar ein Rückgang auf 23 Prozent ermittelt. Als der Vatikan am 18. Dezember 2023 erstmals die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare durch katholische Geistliche erlaubte, verstärkte sich in Polen der groteske Eindruck, die Warschauer Regierung sei in einer Zeit des Wandels stehen geblieben – und inzwischen päpstlicher als der Papst.
Rechte Ultras quer durch Europa blicken inzwischen mit Entsetzen auf die tektonischen Verschiebungen im einst stabil geglaubten konservativen Polen. Was wird jetzt aus dem vermeintlichen Bollwerk gegen die modernistische westliche Dekadenz?
Der neurechte Theoretiker David Engels klagt in einem Interview, die PiS habe dummerweise "einige Fehler" gemacht. So habe der Versuch, ein strenges Abtreibungsrecht weiter zu verschärfen, "schlafende Hunde geweckt und eine unerwartete Protestwelle hervorgerufen, die sicherlich auch erklärt, wieso gerade Frauen nun massiv gegen die PiS gestimmt haben". Zudem habe es vielen Polinnen und Polen nicht gefallen, wegen immer neuer Konflikte ihrer Regierung mit der EU im Westen dumm dazustehen "als Bürger eines autoritären, quasi klerikalfaschistischen Staates". Engels meint, "mit ein bisschen mehr Diplomatie hätte man den ganzen Konflikt durchaus auf kleinerer Flamme halten können".
Überlegungen dieser Art zeigen das geistesgeschichtlich Zäsurhafte des Geschehens in Polen: Plötzlich entpuppt sich Illiberalität als Risiko. Sogar radikalen Rechten erscheint auf einmal eine allzu radikal rechte Politik als unvorteilhaft. Unterdessen entdecken westliche Geopolitiker, die sonst mehr aufs Militärische blicken, bei den Themen Frauen, Abtreibung und LGBTQ eine interessante neue Trennlinie zwischen Polen und Russland.
"Was jetzt gerade in Polen geschieht, hat Auswirkungen auf ganz Europa", urteilt Marcin Zaborowski, Sicherheits-Experte bei der Warschauer Denkfabrik Globsec. Eine rechtspopulistische Regierung wieder abzuschütteln werde von Jahr zu Jahr schwerer, weil die Herrschenden stets danach trachteten, die Medien immer mehr in ihrem Sinne zu manipulieren und die Opposition zu entmachten. Ungarn und die Türkei seien dafür bedrückende Beispiele. "In Polen aber ist jetzt erstmals in Europa die demokratische Entmachtung einer rechtspopulistischen Regierung gelungen – allen vorherrschenden Strömungen und Unterströmungen zum Trotz."
In der transatlantischen Politikszene ist bereits von einem Gezeitenwechsel ("sea change") in Polen die Rede, mit Auswirkungen, die bis ins Geopolitische reichten: Während Russland unter Wladimir Putin gerade dabei sei, die Spielräume der LGBTQ-Community weiter einzuengen und auch das Abtreibungsrecht zu verschärfen, ziehe eine gesellschaftliche Mehrheit in Polen eine weithin sichtbare neue Trennlinie zwischen Ost und West.
Auch über mögliche Auswirkungen der Warschauer Wende auf den US-Wahlkampf in diesem Jahr wird diskutiert. Von einer "Blaupause zum Umdrehen antidemokratischer Tendenzen" spricht die amerikanische Politologin Patrice McMahon und deutet auf eine Kombination von hoher Wahlbeteiligung und hohem Engagement von Frauen und von jüngeren Leuten. In Polen wurden tatsächlich alle drei Register gleichzeitig gezogen.
Von den Wählern unter 29 Jahren gaben 69 Prozent ihre Stimme ab, vor vier Jahren waren es nur 46 Prozent.
Was, wenn derzeit auch in den USA Frauenthemen generell unterschätzt werden? Den Strategen der US-Republikaner gibt nach wie vor eine Volksabstimmung in Kansas zu denken. In dem von den Republikanern dominierten Bundesstaat gab es im Sommer 2022 überraschend eine Mehrheit für eine liberale Abtreibungsregelung, die mit der Rhetorik der Parteioberen ganz und gar nicht zusammenpasste.
Hat der womöglich allzu siegesgewisse Donald Trump vielleicht einen großen Fehler gemacht, als er jüngst seine republikanische Mitbewerberin Nikki Haley herablassend als "Spatzenhirn" bezeichnete? Plötzlich gibt es neue Tagträume: Ein von Frauen bewirkter "sea change" in den USA würde die ganze Welt verändern.
Noch allerdings ist es nicht so weit, noch schwappt die Flut nach rechts. In den Niederlanden wurde im November der Ausländerfeind und Putin-Freund Geert Wilders zur stärksten Figur. In Argentinien regiert seit Dezember der rechtspopulistische neue Präsident Javier Gerardo Milei. In Deutschland legt die ebenso konservative wie kremltreue AfD immer neue Umfragerekorde hin.
Polen dagegen wirkt, als sei es anderen Nationen gleich zwei Schritte voraus. Es hat erstens eine rechtspopulistische Regierung bereits intensiv erlebt – und sie zweitens auch schon wieder aus den Ämtern gejagt.
Die Künstlerin Karolina Bregula vergleicht die heutige Stimmung in Polen mit Erzählungen ihrer Eltern über den freiheitlichen Aufbruch in den Achtzigern unter Führung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc. "Heute wie damals", sagt sie, "ist so etwas zu spüren wie der Zauber eines Anfangs." Allerdings machten sich viele jetzt bereits Sorgen, wie lange das von Tusk geschmiedete Bündnis wohl hält. "Deshalb brauchen wir heute, wenn auch aus diesem Neubeginn ein historischer Erfolg werden soll, noch einmal die gleiche Grundhaltung wie damals: Solidarität."