Dem Jungen, so erinnern sich die beiden, wenn man mit ihnen spricht, ist die Angst ins Gesicht geschrieben. Seine Augen sind rot, verweint, er ist völlig aufgelöst. Er ist auf dem Weg von der Schule nach Hause. Abdi und Arda, 17 und 16 Jahre alt, schalten schnell. Sie verstehen, dass es sich hier nicht um ein störrisches Kind und einen wütenden Vater handelt, sondern um eine Notsituation. Der Mann versucht noch, die Jugendlichen zu vertreiben, fuchtelt aggressiv mit den Armen. Der Mann ruft den Jugendlichen zu: "Geht weiter."
Abdi aber geht nicht weiter. Instinktiv geht er auf die beiden zu und befreit den 12-Jährigen aus dem Griff des Mannes. Er fragt den Jungen, ob alles in Ordnung sei. Der antwortet: "Der Mann will mich entführen. Bitte, bringt mich nach Hause." Ohne ein Wort zu wechseln, ist für Abdi und Arda klar: Arda läuft dem fliehenden Mann hunderte Meter bis zu dessen Wohnungstür hinterher. Parallel telefoniert er mit der Polizei. Abdi bringt den Jungen zu seinen Eltern nach Hause. Wie die Polizei einen Tag nach dem Vorfall erklärte, wird nun gegen einen 61-jährigen Mann wegen Freiheitsberaubung ermittelt.
Anfang Oktober in der Wohnung von Ardas Familie in Mönchengladbach-Holt. Im Wohnzimmer flackern Kerzen, der Couchtisch ist gedeckt mit Süßigkeiten und türkischem Börek. Dazu gibt es Kaffee. Arda komme seit zwei Stunden nicht wirklich aus dem Zimmer, erzählt seine Mutter. Gerade macht er sich fertig für einen Termin mit dem Mönchengladbacher Oberbürgermeister.
Kurz darauf klingelt Abdi an der Tür, er trägt ein graues Polohemd. Wenn er lacht, glühen seine Wangen. Er lacht viel. Erst als sich sein Freund blicken lässt, kommt auch Arda in das Wohnzimmer. Seine langen Haare hat er mit einem Haarreif und schwarzen Haarklammern gezähmt. Er trägt ein schwarzes Hemd, das er vor dem Treffen mit dem Bürgermeister wechseln wird. Abdi und Arda sitzen nebeneinander auf der grauen Couch. Wenn sie reden, schauen sich immer wieder rückversichernd in die Augen, ergänzen die Sätze des Anderen.
Seit dem Vorfall sind sie viel herumgekommen. Ein Reporter der "Bild" war zu Besuch und auch die Lokalpresse war da. Zuletzt waren sie in der Prosieben-Talkshow von Linda Zervakis und Matthias Opdenhövel zu Gast. Viel Aufmerksamkeit für zwei Jungs, die ihr Handeln als "normal" bezeichnen. Die am Abend nach der versuchten Entführung einfach schlafen gingen, als wäre nichts passiert.
Der Kriminalist Olaf Hildebrandt und sein Team konnten zwölf Tage nach dem Verbrechen an dem kleinen Joel aus Pragsdorf einen 14-Jährigen als Tatverdächtigen festnehmen. Jetzt gibt Hildebrandt Einblick in seine Arbeit. Der grausame Tod des Jungen hat auch die Ermittler bewegt.
Arda sagt: "Für uns war das normal, einen Jungen zu retten. Retten hört sich vielleicht komisch an, weil man das nur aus Filmen kennt, aber so war es eben." Fragt man die Beiden, ob sie je über die Definition von Mut nachgedacht haben und was das für sie bedeutet, schweigen sie kurz. Abdi: "Nein, eigentlich nicht." Arda: "Nein."
Angst hätten sie keine gehabt, nicht vor dem Mann und auch nicht vor der Situation. Höchstens umeinander. Die Frage wirkt auf einmal grotesk. Fast deplatziert. Es scheint so, als wollten die Beiden keine tieferen Gedanken dafür aufwenden. "So wurde uns das beigebracht", sagt Abdi, der mit neun Geschwistern aufgewachsen ist. Würden sie wieder so handeln? "Ja, würden wir", sagt Abdi. Was sie von sich selbst erwarten, das gilt auch für andere.
Arda wünscht sich, dass die Menschen aufmerksamer werden. "Früher war das anders", sagt er, und klingt dabei wie ein Erwachsener. Als Vergleich bringt er eine Situation, die viele schon erlebt haben: "Früher hat man bei der Landung im Flugzeug immer geklatscht. Als ich vor anderthalb Wochen geflogen bin, habe ich extra meine Kopfhörer bei der Landung herausgenommen, aber niemand hat geklatscht. Keiner hat sich dafür interessiert. Ich habe das Gefühl, die Leute interessieren sich immer weniger füreinander."
Und obwohl Abdi und Arda keine Helden sein wollen, gibt es einen Moment, in dem der 16-jährige Arda den Gedanken kurz zulässt. Er muss lachen. "Ich bin mit Spiderman aufgewachsen. Wenn ich irgendwann sterbe, werde ich als Spiderman wiedergeboren – das würde ich mir jedenfalls wünschen." Spiderman sei sein persönlicher Superheld. Wieso? "Er rettet Menschen. Ich rette auch Menschen." Arda und Abdi, beide müssen los zum Oberbürgermeister. Sich die nächsten lobenden Worte für etwas abholen, das für sie selbstverständlich ist.