Ihre Perspektive ist das Streitthema in der Ampelregierung und dem politischen Berlin, aber auch innerhalb der Gesellschaft. Wohin mit den Menschen? Integrieren oder gleich abschieben? Besorgt sind die Deutschen allemal. Laut der Langzeitstudie "Die Ängste der Deutschen" ist die Sorge, dass Deutsche und deutsche Behörden durch Geflüchtete überfordert sein könnten (plus 11 Prozentpunkte) und die Angst, dass das Zusammenleben in Deutschland durch einen weiteren Zuzug von Migrantinnen und Migranten beeinträchtigt werden könnte (plus 10 Prozentpunkte), in den vergangenen Jahren stark gestiegen.
Die Sorge vor Migration hängt aber nicht unmittelbar von der Zahl Geflüchteter oder "gescheiterter" oder "erfolgreicher" Integration ab, sondern viel mehr vom Leben der Deutschen selbst. Bedeutet: Je zufriedener sie sind, desto weniger sorgen sie sich vor Geflüchteten. Oder andersherum: Je prekärer die Lebenssituation, desto höher ist die Ablehnung.
Zu diesem Ergebnis ist der Soziologie Fabian Kratz der Ludwig-Maximilians-Universität in München gekommen. Er wertete dafür Daten aus einer großen sozioökonomischen Wiederholungsbefragung aus, bei der Menschen in Deutschland über 20 Jahre hinweg berichteten, wie zufrieden sie gerade mit ihrem Leben sind. 60.000 Befragte zwischen 17 und 65 Jahren nahmen daran teil. Die Frage dahinter: Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Einkommen oder Ihrer Wohnsituation und mit Ihrem Leben ganz allgemein?
Dem gegenüber stellte Kratz die Frage nach der Sorge vor zu viel Migration. Das Ergebnis: Je unzufriedener die Befragten mit ihrer eigenen Lebenssituation waren, desto eher waren sie in Sorge vor Migration. Ob Menschen in diesem Land glücklich sind, hat also einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Willkommenskultur und am Ende auch auf Wahlerfolge von rechtspopulistischen Parteien. Bei der vergangenen Landtagswahl in Bayern gaben etwa 41 Prozent bei einer Umfrage an, dass Zuwanderung eines der wichtigsten Themen sei. Die AfD profitierte und verzeichnete die stärksten Zuwächse im Vergleich zu 2018.
Die Unzufriedenheit, die die Sorge vor Migration beflügelt, muss aber nicht unbedingt damit zu tun haben, ob jemand in seinem Job zufrieden ist oder ausreichend Geld hat. Einflussfaktoren können genauso persönliche Schicksalsschläge sein wie der Tod einer nahestehenden Person.
In beiden Fällen sieht Soziologe Kratz Geflüchtete als Sündenbock. Menschen würden generell dazu neigen, nach einem Übeltäter Ausschau zu halten, wenn es ihnen schlecht gehe. Denn: Wer im eigenen Land nicht von dem Wohlstand profitieren kann, den andere anhäufen, der schaue damit feindselig auf diejenigen, die angeblich Geld zu Verwandten ins Ausland schicken oder es sich "auf der sozialen Hängematte" gemütlich machen.
Die gute Nachricht: Die Sorge vor Migration ist kein Perpetuum mobile. Sie kann eingefangen werden. Sobald die Lebenszufriedenheit steigt, sinkt auch die Ablehnung gegenüber Geflüchteten. Das kann eine Chance sein. Denn die Ergebnisse zeigen, dass es nicht darum geht, wie es den Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich geht, sondern wie sie ihre eigene Lage subjektiv wahrnehmen. Diese Unzufriedenheit lässt sich abfedern, wenn den anderen Sorgen der Deutschen etwas entgegengebracht wird.
Denn die Angst vor stark steigenden Lebenshaltungskosten ist laut der Langzeitstudie "Die Ängste der Deutschen" die größte Sorge der Deutschen. Auch auf Platz zwei und drei der Rangliste landeten Sorgen vor einem teureren Leben: Sechs von zehn Bundesbürgern (60 Prozent) haben demnach Angst, dass Wohnen unbezahlbar wird und fast genau so viele (57 Prozent) fürchten, dass der Staat dauerhaft Steuern erhöht oder Leistungen kürzt. Konkrete Ängste, die wenig mit der Problematik der Geflüchteten und deren Perspektive zu tun hat. Sie sind eine Chance für die nächste MPK und für weniger populistische Lösungen.