Das hatte viele Gründe: Da gab es zunächst eine Lichtgestalt, die hieß Salvadore Allende. Er war Präsident, links und anders als jene grauen Apparatschiks in Moskau oder Ostberlin eben ein waschechter Demokrat, der richtige Wahlen gewonnen hatte und deshalb seinen rechtmäßigen Platz im Präsidentenpalast am besagten Tag mit einer AK-47 in der Hand und einem Helm auf den Kopf verteidigte. Bis zum unausweichlichen Tod.
Dann gab es da auf der anderen Seite das Böse, in Person des sonnenbebrillten Finsterlings Augusto Pinochet. Ein General, der unterstützt vom US‑Geheimdienst ein Schreckensregime in Chile etablierte, welches fast zwangsläufig an die bei vielen noch sehr lebhaften Erinnerungen an die NS‑Zeit anzuknüpfen schien, allein schon der ähnlichen Helme wegen, die Chiles Soldaten als gute Schüler ihrer preußisch-deutschen Lehrer trugen.
"Star Wars" eroberte zwar erst drei Jahre später die Kinos, doch kann man ausschließen, dass sich der damals 29-jährige, politisch interessierte Regisseur George Lucas nicht auch bei Pinochet bediente, als er seinen Finsterling Darth Vader erschuf? Die Tragödie im Andenstaat hatte sogar einen Soundtrack: die Lieder von Victor Jara. Von seinen Mördern aufgefordert zu singen, schmetterte er ihnen sein unvergessenes "Venceremos" entgegen – "wir werden siegen" –, bevor er von mehr als 40 Schüssen durchsiebt wurde. Zu guter Letzt gab es da noch die Chilenen. Junge, hippe Leute mit langen Haaren, die sich dieser Diktatur mit ihrer Wut und ihren zerbrechlichen Körpern entgegenstemmten – und zu Tausenden in zu Folterzentralen umgewidmeten Fußballstadien verschwanden. Viele für immer.
Das sind die Narrative, die bis heute den Putsch vom 11. September 1973 und die sich anschließenden 16 Jahre Militärdiktatur dominieren. Sie sind nicht falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Weil Geschichte auch stets von Interpretationen des Zeitgeists lebt und kaum Zwischentöne zulässt. Denn Allende war zwar ein sympathischer Präsident, der soziale Wohltaten verantwortete und – anders als Fidel Castro in Kuba – Oppositionsparteien und Wahlen weiter duldete. Der es aber auch nie vermochte, sein Land wirtschaftlich zu stabilisieren und zu der Hälfte der Gesellschaft, die ihn ablehnte, Brücken zu bauen. Allende versuchte erst gar nicht, Präsident aller Chilenen zu sein.
Sein Gegenspieler Augusto Pinochet war ein Antidemokrat, Rechtsbrecher und Verräter, der seine Regierung und den Oberbefehlshaber im Präsidentenpalast, La Moneda genannt, mit Kampfflugzeugen vom Typ Hawker Hunter bombardieren ließ. Schon gegen Mittag an jenem 11. September 1973 stand fest, die Putschisten hatten gesiegt. Zuvor hatte Allende den ganzen Morgen lang fieberhaft versucht, seinen militärischen Oberbefehlshaber Pinochet zu erreichen, zwei Tage zuvor hatte der ihm noch seine Treue versichert. "Wenn nur endlich Pinochet einschreiten würde", soll Allende gefleht haben, als ihm von putschenden Armeeinheiten berichtet wurde.
Doch schon bald zerstoben die letzten Hoffnungen des 65-jährige Präsidenten. Das gesamte Militär hatten die Putschisten hinter sich gebracht, Großstädte wie Valparaíso übernommen. Und ausgerechnet der untreue "Brutus" Pinochet, den Allende so gefördert hatte, war offenbar ihr Kopf. Die Lage der im Präsidentenpalast eingeschlossenen Allende-Anhänger war aussichtslos. Der Präsident hielt im Radio eine letzte Ansprache, bleibende Worte eines mutigen Mannes: "Mir bleibt nichts anderes, als den Arbeitern zu sagen: Ich werde nicht aufgeben! In diesem historischen Moment werde ich die Treue zum Volk mit meinem Leben bezahlen. (…) Sie haben die Macht, sie können uns überwältigen, aber sie können die gesellschaftlichen Prozesse nicht durch Verbrechen und nicht durch Gewalt aufhalten. Die Geschichte gehört uns und sie wird durch die Völker geschrieben."
Wenige Stunden später nahm sich Allende das Leben, wie Augenzeugen berichteten und eine spätere Autopsie ergab. Umgehend begann die Legendenbildung: Der Präsident sei ermordet worden, hieß es noch lange Zeit. Noch am Tag des Putsches zeigte die Putschisten ihr hässliches Gesicht: Eine brutale, durch nichts zu rechtfertigende Verfolgung tatsächlicher und vermeintlicher Gegner setzte ein. Der Kongress wurde geschlossen, alle demokratischen Institutionen außer Kraft gesetzt, Parteien wurden verboten. Die Militärjunta übernahm die Kontrolle über alle Bereiche der Gesellschaft, schätzungsweise 28.000 Regimegegner wurden inhaftiert und gefoltert, Hunderttausende ins Exil gezwungen.
Besonders bitter: Im Estadio Nacional von Santiago de Chile, wo sich die Nationalmannschaft zuvor noch erfolgreich für die Fußball-WM 1974 in Deutschland qualifiziert hatte, trieben die Putschisten in den folgenden Wochen Tausende Gefangene zusammen. Drei Monate lang diente es als Konzentrationslager. Nach der Rückkehr zur Demokratie dokumentierte die Rettig-Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen 3197 Morde der Militärjunta in einem Abschlussbericht aus dem Jahre 1996. Die tatsächliche Zahl der Opfer des Militärregimes dürfte aber zwischen 3200 und 4000 liegen. Die meisten davon wurden innerhalb der ersten Tage und Wochen nach dem Putsch ermordet. Das ist schlimm, hat aber nichts mit den Opferzahlen zu tun, die noch in den 70er-Jahren gemutmaßt wurden. 1165 Menschen gelten bis heute als vermisst.
Vor Pinochets Putsch hatte sich das Land in einer schweren Wirtschaftskrise befunden, litt unter Nahrungsmittelmangel und einer galoppierenden Inflation. Das sorgte selbst bei ärmeren Chilenen für viel Frust. Vor allem stand die Regierung der Vereinigten Linken, der Unidad Populär, unter dem ständigen Generalverdacht, nach Ostblock-Blaupause die Demokratie abschaffen zu wollen, wie es lautstark ein Gast gefordert hatte, der 1971 ganze 23 Tage durch das Land getourt war: Fidel Castro. Letztendlich war es diese Angst, ein weiteres Land falle Moskau zu, die neben Allendes Verstaatlichungsprogramm dazu führte, dass die Nixon-Administration in den USA ihren demokratischen Prinzipien Hohn sprechend gezielt chilenische Militärs kontaktieren ließ, die bereit waren, Chiles linke Regierung zu stürzen.
Der erfolgreiche Putsch wurde jedoch für den Westen zum Imagefiasko: Die Welt verabscheute das Putsch-Regime. Etwa 20.000 Menschen flohen ins Ausland. Allein 5000 Chilenen fanden bis zum Ende der Diktatur in der Bundesrepublik Asyl. Besonders groß war die Anteilnahme am Ende der chilenischen Demokratie im Ostblock. Das war natürlich wohlfeil, denn von Havanna bis Moskau hatten die Menschen nicht einmal ansatzweise so viele demokratische Freiheiten wie die Chilenen unter Präsident Allende. Doch allein die Tatsache, dass der Putsch und dessen offensichtliche Unterstützung durch die USA exemplarisch zu zeigen schien, was von den Demokratie- und Freiheitsversprechen des Westens zu halten sei, wurde im Osten propagandistisch ausgeschlachtet.
Es blieb nicht bei Solidaritätsbekundungen. Die SED ließ bedrohte Chilenen ins Land – jedoch nicht jeden. Das Politbüro der Partei entschied am 25. September 1973, nur denjenigen Menschen Zuflucht zu gewähren, die "Mitglieder und Anhänger der Unidad Popular", also der linken Volksfrontbewegung waren. Dabei waren auch Christdemokraten und Gewerkschafter der Verfolgung ausgesetzt. Etwa 2000 Chilenen fanden tatsächlich in der DDR Zuflucht. Unter ihnen auch eine junge Studentin, die mit ihrer Mutter über Australien die DDR erreichte und 2006 die Präsidentschaftswahlen im nunmehr demokratischen Chile gewinnen sollte: Michelle Bachelet.
Deutschlands Einfluss beschränkte sich jedoch nicht darauf, Zufluchtsort für bedrohte Menschen zu sein. Es gab auch ein dunkles Kapitel in der chilenischen Putschgeschichte, an dem Deutsche mitschrieben. Auf dem abgeschotteten Siedlungsgebiet der deutschen "Colonia Dignidad" rund 400 Kilometer südlich von Santiago wurden nicht nur Sektenmitglieder misshandelt und erniedrigt sowie Kinder sexuell missbraucht, Kolonie-Gründer Paul Schäfer diente sich den chilenischen Verschwörern schon sehr früh als willfähriger Helfer an. Nach Recherchen des ARD-Magazins "Fakt" war Schäfer aktiv an der Vorbereitung des Putsches 1973 beteiligt. Auf dem Gelände der Kolonie wurden politische Gegner der Junta gefoltert und ermordet. Über BND-Mittelsmänner an der deutschen Botschaft sollen über die "Colonia Dignidad" auch Waffen und sogar Komponenten für chemische Kampfstoffe ins Land geschmuggelt worden sein.
Walther Rauff, während des Krieges als ehemaliger SS-Standartenführer einer der Hauptverantwortlichen für die Umsetzung des Vernichtungsbefehls gegen Europas Juden, war in Chiles Militärdiktatur als Vertrauter und Berater des chilenischen Geheimdienstchefs Manuel Contreras maßgeblich an der Verfolgung und Ermordung von Oppositionellen beteiligt. Rauff habe geholfen, einen effektiven Geheimdienst nach dem Vorbild der Gestapo aufzubauen, sagen Zeitzeugen im ARD-Podcast "Pinochets deutsche Paten".
All das konnte jedoch das Ende der Diktatur nicht aufhalten. Chiles Zivilgesellschaft, auch das bürgerliche Lager der längst auf die Seite der Diktaturgegner gewechselten Christdemokraten, setzte dem Militärregime zu. Die Welt machte mobil. Couragierte westliche Politiker, darunter der damalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler und sein Parteifreund, Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, besuchten das Land, engagierten sich für Eingesperrte und protestierten gegen das Regime. Pinochet war Ende der 80er-Jahre weltweit ähnlich isoliert wie Südafrikas Rassisten-Regierung – und ließ sich tatsächlich 1988 auf ein Referendum ein. Er akzeptierte seine Niederlage, ließ sich auf einen Zeitplan zur Übergabe der Macht ein.
Im weltweiten Frühling der Demokratie 1990 feierte auch Chile die neue Freiheit. Der Preis war hoch: Das Militär behielt Privilegien, Pinochet wurde Straffreiheit zugesichert. Er starb friedlich 2006. Für viele Chilenen war er ein Teufel, für andere ein Held. Einer aktuellen Umfrage zufolge sagen 36 Prozent der Chilenen, dass das Militär Chile "vom Marxismus befreit" habe. Für 42 Prozent habe der Staatsstreich die Demokratie zerstört.
Auch ein Kapitel des deutsch-deutschen Widervereinigungsmärchens endete im nunmehr freien Chile: Am 13. Januar 1993 fand Erich Honecker, ehemaliger DDR-Staatsratschef, in Chile Asyl. Etwas mehr als ein Jahr später starb er dort. Seine Witwe Margot lebte noch bis 2016 in Santiago. Chile dankte den beiden so für ihre Haltung während der Zeit der Diktatur – und befreite gleichzeitig das wiedervereinigte Deutschland von der Bürde des Umgangs mit einem gestürzten Diktatur.
dp/fa