Der Alltag in der vom Département betriebenen Krippe verläuft reibungslos. Neben dem Pflegepersonal kommen regelmäßig eine Bücher-Vorleserin und eine Psychologin zu den Kindern. Auch ein Außenbereich mit Spielgeräten steht zur Verfügung – eine Seltenheit im Großraum Paris, wo Platz Mangelware ist. Hier werden die vorhandenen Räumlichkeiten allerdings gar nicht komplett genutzt. Denn auch in Frankreich fehlt es in den Betreuungsstätten für die Kleinsten an Personal.
Kinderpflegerinnen verdienen kaum mehr als den Mindestlohn, bei wenig familienfreundlichen Arbeitszeiten: Die Krippe in Alfortville ist täglich von 7.30 bis 19 Uhr geöffnet und insgesamt an lediglich drei Wochen im Jahr geschlossen. Aufgrund der hohen Nachfrage erhält nur jede zehnte Familie im Département Val-de-Marne eine positive Antwort auf einen Antrag für einen staatlichen Kita-Platz. Priorität bei der Vergabe haben Alleinerziehende und Familien, die anderweitig Härtefälle darstellen. Oder die besonders Hartnäckigen. "Ich habe immer wieder bei der Zuständigen im Rathaus angerufen, bin dran geblieben", verrät Hélène ihre Strategie.
Es gibt also einen Mangel – aber auch etliche Alternativen für all jene, die leer ausgehen. Dazu gehören private Kindertagesstätten, deren Plätze meist durch Unternehmen ko-finanziert werden, sowie ein gut funktionierendes Netzwerk von Tagesmüttern. Diese arbeiten oft zu ebenso umfassenden Tageszeiten wie die Krippen und die Rathäuser helfen bei der Vermittlung durch die Herausgabe einer Liste mit Kontakten. Sind die Tagesmütter staatlich geprüft, was unangemeldete Kontrollbesuche bei ihnen nach sich zieht, übernimmt die Sozialkasse nicht nur den Arbeitgeber-Anteil der Abgaben. Bei der Steuererklärung lassen sich bis zu 50 Prozent der Kosten für die Betreuung von Kindern im Alter bis zu sechs Jahren absetzen. Hinzu kommen große Steuernachlässe für Eltern. Ab drei Jahren gehen Kinder in Frankreich in die Vorschule. Sie ist gratis und wurde unter Präsident Emmanuel Macron verpflichtend. Halbtages-Angebote gibt es dabei nicht, abgesehen vom Mittwoch. Für die Schulferien bestehen ebenfalls ganztägige Betreuungsmöglichkeiten auch schon für die Kleinsten.
Frankreichs Familienpolitik ist seit Jahrzehnten darauf ausgerichtet, dass die Mütter rasch nach der Geburt wieder in den Beruf einsteigen. 16 Wochen dauert der Mutterschaftsurlaub insgesamt bei den ersten beiden Kindern, ab dem dritten sind es 26 Wochen. Während dieser Zeit gibt es Elterngeld, dessen Höhe vom vorherigen Verdienst abhängt. Danach beträgt diese Leistung nur noch pauschal 429 Euro im Monat und kann bis zu drei Jahre lang bezogen werden. Die neue Familienministerin Aurore Bergé will diese Dauer verkürzen, aber die Summe erhöhen und an das Gehalt koppeln. Ihr gehe es darum, "den Eltern die Wahl zu geben, sich zusätzliche Zeit mit ihrem Kind zu nehmen".
Das sind ungewöhnliche Töne in dem Land, in dem das Wort "Rabenmutter" nicht existiert und es üblich ist, Kinder früh in die Fremdbetreuung zu geben. "In Frankreich arbeiten die Frauen – und bekommen mehr Kinder als im Rest Europas", fasst die Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter zusammen, deren großes Thema die Vereinbarung von Mutterschaft mit dem Frau-Sein und dem Berufsleben ist. Sie kämpft gegen den "Mythos der perfekten Mutter" an, der die Wurzel der Ungleichheit sei.
Tatsächlich belegen die Zahlen, dass die Französinnen vergleichsweise stark präsent auf dem Arbeitsmarkt sind. Die Zahl der Vollzeit beschäftigten Frauen stieg seit 1975 stetig an. Heute greifen im Schnitt 28 Prozent auf Teilzeit-Modelle zurück. Das steht nicht im Widerspruch mit einer hohen Geburtenrate, auch wenn sie in den vergangenen Jahren sank. 2022 lag sie bei 1,80 Kindern pro Frau, gegenüber 1,46 in Deutschland. Einer der Gründe laut Badinter: Französinnen müssen sich nicht zwischen Kind und Karriere entscheiden. Das stimmt zumindest auf den ersten Blick, denn die Betreuungsmöglichkeiten sind gegeben. Als Vorbilder dienen viele Frauen in Top-Positionen in Politik und Wirtschaft: Von der Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, über die sozialistische Ex-Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, die jeweils vier Kinder haben, bis zu den Chefinnen von Air France, Anne Rigail, oder der Präsidentin der staatlichen Rundfunkanstalt France Télévisions, Delphine Ernotte, die zweifache Mütter sind.
Und doch stellt in vielen Fällen die Mutterschaft auch im Land großer Feministinnen wie Simone de Beauvoir einen Einschnitt dar. In Sachen Gleichberechtigung hängt Frankreich anderen Ländern, vor allem den skandinavischen, hinterher. Dem nationalen Statistikamt Insee zufolge verdienten Frauen 2019 im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer und besetzten deutlich seltener Führungsposten. Im Privatleben teilen sich laut Studien bei Paaren beide Geschlechter die Hausarbeit und Kinderbetreuung nicht zu gleichen Teilen auf, selbst wenn beide Vollzeit arbeiten. Hinzu kommt, dass die Inanspruchnahme von Elternzeit durch Männer sehr unüblich ist. Präsident Macron hat 2021 die Rolle der Väter zumindest leicht aufgewertet: Der Vaterschaftsurlaub stieg von 14 auf 28 Tage. So sehr Frankreich hinsichtlich der Kinderbetreuung als Modell gelten kann, für die geltenden Elternzeit-Regeln trifft dies nicht zu.
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